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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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vorkam und allen Farben einen rosigen Schimmer verlieh. Eine Verheißung lag in der Luft, die überwältigend war. Am liebsten hätte sie sich sofort an das zierliche Pult gesetzt und mit der Arbeit an einem Artikel begonnen, doch ihre Schreibmaschine stand daheim auf El Manzanal, und das Schreiben mit der Hand schien in die Hauptstadt nicht zu passen. Wie verfluchte sie jetzt ihren Trotz, der ihr verboten hatte, das Geschenk des Vaters mitzunehmen. Wenigstens hatte sie ihren Armreifen nicht abgezogen, wie sie es in ihrem kindischen Zorn geplant hatte. Das dunkle Gold funkelte an ihrem Gelenk und fing Funken vom Licht des Morgens auf.
    Zum Frühstücken blieb an diesem Tag keine Zeit. In der Sala, der Eingangshalle, an deren Wände Felix aztekische Götter in Lebensgröße gemalt hatte, wartete bereits eine bunt gewürfelte Schar von Freunden, um Martinas Familie zu den Feiern abzuholen. Einer von ihnen hatte eine Jarana und ein anderer eine Trommel mitgebracht, und während sie zu Fuß durch die geschmückte Allee zum Zócalo zogen, sangen sie aus vollem Halse Freiheitslieder. Josefa hatte nach langem Überlegen einen dunklen Rock zu einer hochgeschlossenen Bluse angezogen, die ihr jetzt provinziell und langweilig vorkamen. Aber schon bald vergaß sie ihre Kleidung, weil das Leben, das um sie toste, ganz von ihr Besitz ergriff.
    Ein brandendes Meer von Geräuschen empfing sie. Den Grito de Dolores, den Ruf »Lang lebe Mexiko!« und das Geläut, das bei Nacht das Fest der Unabhängigkeit eröffnete, hatten sie verschlafen, doch die Glocken der Kathedrale läuteten den ganzen Tag weiter. Die gesamte Weite des Zócalo, des größten Platzes der Stadt, war ein einziges Menschengetümmel, das sang, schrie, lachte, schwatzte und tanzte. Militärkapellen spielten patriotische Märsche, zu denen Soldaten in Galauniformen auf und ab paradierten, Feuerschlucker, Jongleure und Stelzenläufer wetteiferten um die Gunst der Zuschauer, und dazwischen boten Händler mit Handkarren und Bauchläden ihre Waren feil. Von gefüllten Tamales und Bechern mit gesüßtem Atole über Halstücher, Sombreros und Nachttöpfe bis hin zu Käfigen mit lebendem Federvieh ließ sich alles erwerben, was das Herz begehrte.
    Auf einem abgesteckten Feld in der Mitte vergnügten sich junge Männer bei einem Ballspiel, bei dem der Ball mit dem Gesäß durch einen steinernen Ring getrieben werden musste. Es war einem alten Spiel aus der Zeit vor der spanischen Eroberung nachempfunden, von dem niemand die Regeln kannte. Den Männern nicht auf die muskulösen, nur von ledernen Schurzen bedeckten Hinterbacken zu starren war schier unmöglich, und Josefa spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg.
    Ihre Gruppe war zu groß, um beieinanderzubleiben. Schon nach wenigen Schritten wurden Josefa und Tomás im Gedränge von den Übrigen getrennt. »Davon lassen wir uns nicht stören«, befand Tomás und bot ihr seinen Arm, damit sie ihm nicht verlorenging. »Irgendwie, irgendwo finden wir uns schon wieder, spätestens heute Abend vor dem Ball.«
    Weil sie es sich wünschte, ging er mit ihr in die Kathedrale, die einer gigantischen Markthalle glich. Was für eine Stadt ist das, und was für ein Volk sind wir?, durchfuhr es Josefa. Kann eine Nation überhaupt in Frieden leben, die durch solche Unterschiede gespalten wird? In den Bänken des Kirchenschiffs dösten elegante Herren mit Gehstock und Zylinder, derweil ihre Gattinnen in die Seitenkapellen zum Beten eilten, wo sie in der üppigen Pracht ihrer Roben kaum auf die Knie hinunterkamen. Am Portal stürzten sich Händler mit verknitterten Heiligenbildchen auf Kunden, und dahinter warteten missgebildete Bettler und schmutzverkrustete Kinder, die um Almosen flehten, während ihre Kumpane darauf lauerten, dem Spender die gezückte Börse aus den Fingern zu reißen. Fromme Novizinnen legten vor schreiend bunten Altären ihre Blumen nieder, und durch den Mittelgang trieb ein bloßfüßiger Bursche eine Horde gackernder Hühner.
    Tomás ließ sie das Gewimmel in sich aufnehmen, bis sie sich erschöpft an eine der himmelhohen Säulen lehnte. »Na komm, kleine Rose«, sagte er, »Zeit, sich zu stärken.« Er führte sie wieder ins Freie, vorbei an einer Reihe Indio-Frauen, die auf ausgebreiteten Tüchern Blumen verkauften. Der Duft der frischen Blüten überlagerte für kurze Zeit die übrigen Gerüche, die in Schwaden über den Platz quollen. Tomás kaufte ihr eine Lobelie in tiefstem Königsblau und steckte sie ihr

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