Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
deshalb fackeln die Rurales nicht lange, sondern erschießen dich lieber gleich.«
»Kommt weg von diesem Bahnhof«, bestimmte Anavera. »Wenn wir auf niemanden mehr zu warten haben, können wir genauso gut nach Hause gehen, wo wir ohne Maulkörbe sprechen dürfen.«
Tomás nickte und nahm sein Bündel vom Boden. »Benito kommt zu Weihnachten«, versuchte er die Mutter zu versöhnen. »Nur für fünf Tage, aber er kommt, das hat er geschworen. Und Josefa auch. Wir haben sie bestürmt, sie solle mit mir fahren, aber sie wollte auf ihren Vater warten und das Projekt, an dem sie arbeitet, beenden. Josefa ist großartig.« Seine Miene hellte sich auf. »Sie macht ihrer Familie alle Ehre.«
Über das Gesicht der Mutter glitt ein Funken Freude, der jedoch gleich wieder verlosch. »Ich wünschte, Benito würde sich die Schwüre sparen«, sagte sie. »Er leidet schließlich darunter, wenn er sie bricht.«
Damit Anavera Citlali nicht zurückführen musste, bot Tomás an, ihn zu reiten. Im Grunde war er als Reiter nicht geübt genug, um den nervösen Grauschimmel, dessen Fell wie mit Sternenstaub bestreut schimmerte, zu beherrschen, aber Anavera mochte es ihm nicht abschlagen. Sie wies ihn an, den Hengst am kurzen Zügel zu lenken, und sie kamen noch langsamer voran als auf dem Hinweg. Die Schönheit der Landschaft, ihre Fülle und Weite, riss Tomás, der sie mit Maleraugen sah, zu Stürmen der Begeisterung hin und vertrieb die Wolken der Missstimmung. »Es ist jedes Mal, als käme man unverdient ins Paradies«, sagte er zu Anavera. »Weißt du, dass ich mich daraus von keiner Schlange und von keinem Flammenschwert vertreiben lasse?«
Anavera lachte. »Pass lieber auf, dass du dir nicht den Hals brichst. Du musst die Hände ruhiger halten. Wenn du Citlali derart im Maul reißt, ist es kein Wunder, dass er tänzelt und den Kopf wirft.«
»Bist du sicher, dass er ein Pferd ist?«, beschwerte sich Tomás. »Ich glaube, er ist die Feuerschlange des Huitzilopochtli und wird gleich aus der Deckung schießen, um mir den Garaus zu machen wie der Sonnengott seinen Geschwistern.«
»Was aus der Deckung schießt, ist deine Phantasie«, konterte Anavera. »Er ist nur ein Hengst in den besten Jahren, der seinen Herrn vermisst und zu wenig Bewegung bekommt.«
»So ähnlich wie ich«, säuselte Tomás und beugte sich gefährlich weit zu ihr hinüber. »Nur dass ich eine Herrin zu vermissen hatte.«
Sie drohte ihm lachend mit dem Zügelende. »Wenn du glaubst, dass du so einen Kuss von mir bekommst, dann hast du dich geschnitten. Schlechte Reiterei wird von mir nicht noch belohnt.«
»Eine höchst grausame Herrin«, bemerkte Tomás.
Durch die vergoldeten Täler und die frisch duftenden Wälder zu reiten und mit ihm zu flachsen tat so wohl, dass Mitleid mit der Mutter sie packte. Auf dem Bock des Karrens, den sie für die Heimkehrer geschmückt hatte, saß sie wie von aller Welt verlassen.
Und dann war auch für Anavera und Tomás das Idyll mit einem Schlag vorbei.
»Was ist das?« Tomás wies auf die eisernen Pfeiler, mit denen Felipe Sanchez Torrija seinen neuen Besitz hatte abstecken lassen. Dahinter stand kein Mais mehr, und im Schatten der hohen Stauden würden sich keine Bohnen ranken. Sanchez Torrija wollte hier Henequen-Agaven anbauen, wie sie in Yucatán standen, um Seile und Füllstoffe für den Export nach Nordamerika zu produzieren. Dass Henequen keine Menschen ernährte, kümmerte ihn nicht. »Warum hast du mir nichts davon geschrieben?«, fragte Tomás, der sich seine Antwort wohl selbst gegeben hatte. »Wer hat das Land gekauft? Es unterstand doch immer der Gemeinde.«
»Und du weißt, dass es kein Gemeindeland mehr geben darf.«
»Natürlich weiß ich das. Aber in Querétaro …«
»Don Porfirio hat offenbar seine Gründe, den Gouverneur von Querétaro von seinem Bundesstaat fernzuhalten.«
»Zum Teufel, damit hast du recht. Und wem gehört jetzt das Land?«
Schweigend wies Anavera auf das neuerrichtete Tor, in das ein spanisches Adelswappen eingelassen war.
»Felipe Sanchez Torrija.«
Anavera nickte
Tomás riss den Hengst so scharf im Maul, dass dieser sich bäumte, doch es gelang ihm, sich im Sattel zu halten und das Tier zum Stehen zu bringen. »Was hast du mir noch verschwiegen? Was ist mit Miguels Kind – ist es geboren?«
Um ein Haar hätte sie traurig aufgelacht. »Solche Frage kann vermutlich nur ein Mann stellen. Natürlich ist es geboren, Kinder bleiben ja nicht auf ewig im Mutterleib. Es war
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