Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
sprang hinzu, um ihn beiseitezureißen, doch es genügte nicht. Die pfeifende Schnur traf ihn an der Schläfe und schnitt blutrot durch seine Wange. Tomás taumelte zur Seite. Geistesgegenwärtig fing Anavera ihn ab, ehe er fiel, und presste den Ärmel ihres Kleides auf die Wunde. »Tomás, oh, Tomás!«
Sanchez Torrija spreizte die Hände. »Was blieb mir übrig? Sie haben ja alle gesehen, dass der Bursche mir jetzt schon zum zweiten Mal ans Leben wollte.«
Sie hätte aufheulen wollen oder sich übergeben wie Josefa, der vom Anblick von Blut übel wurde. Stattdessen presste sie noch immer den Arm mit aller Kraft auf die Wunde. Die Mutter kam mit Teiuc, den sie stützen musste. »Nein, Tomás«, sagte sie, als dieser zornbebend auf Sanchez Torrija lospreschen wollte. »Wir gehen nach Hause, ehe noch mehr geschieht. Teiuc braucht dringend Hilfe, und du brauchst sie auch. Anavera, kannst du Vaters Pferd einfangen? Ich gehe mit den Männern zum Wagen.«
Tomás wollte sich nicht fügen, aber Anavera schlang die Arme um ihn und beschwor ihn: »Wir richten doch hier nichts mehr aus, wir machen nur alles noch schlimmer.«
»Ich will kein Feigling sein«, brachte er heiser heraus.
»Du bist doch kein Feigling!« Sie legte eine Hand an seine unverletzte Wange und musste gegen Tränen kämpfen, weil es ihr weh tat, sein blutüberströmtes Gesicht anzusehen. »Du bist mutig und aufrecht, und ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich!« Dreimal rief sie es gegen all die Abscheulichkeit, die sie bedrohte, an. Er streichelte mit bebenden Fingern ihre Wange, senkte den Kopf und ging mit ihrer Mutter und Teiuc.
Citlali einzufangen war leicht. Er kam von selbst, sobald sie seinen Namen rief, weil er von ihr nur Gutes gewohnt war. Anders als Aztatl war er als Jungpferd brutal gebrochen worden, doch die Jahre unter den behutsamen Händen ihres Vaters hatten ihn Vertrauen gelehrt. Sie führte ihn den Hang hinunter und durch die Gasse, die die Arbeiter bildeten. An deren Ende, kurz vor den Pfeilern, entdeckte sie Teiucs Bruder.
»Ollin!«, rief sie. »Komm mit uns, bleib nicht hier.« Ollin aber wandte sich hastig ab, als würde er sie nicht kennen, und nahm seine Arbeit wieder auf.
»Er schämt sich«, sagte ihre Mutter, die hinter den Pfeilern auf sie wartete. »Nimm es ihm nicht übel.«
»Aber warum denn? Wenn einer Grund hätte, sich zu schämen, dann wäre es Sanchez Torrija, und der tut es nicht!«
»Komm«, sagte ihre Mutter nur und ging ihr voraus zum Karren. Anavera bemerkte, dass sie das Wort kaum herausbekam.
Daheim bemühte sie sich, den üblichen Begrüßungswirbel abzuwehren, erklärte Vicente, Enrique und Elena, was geschehen war, und gab der Mutter damit Zeit, sich um Teiuc zu kümmern. Bestürzt überhäuften die anderen sie mit Fragen. Acalan stand schweigend am Rand, während über die neuerliche Kränkung seiner Familie debattiert wurde, und ging schließlich fort. Anavera wünschte, Elena wäre ihm gefolgt und hätte ihm beigestanden.
Als sie endlich ins Haus trat, dämmerte es. Xochitl hatte dafür gesorgt, dass alle zu essen bekamen, aber Tomás wollte nicht hinunterkommen, und die Mutter fehlte auch. Anavera füllte Tortillas, Käse und gewürztes Truthahnfleisch in eine Schüssel und trug sie Tomás in die Kammer, in der er schon als Kind auf El Manzanal geschlafen hatte.
Er saß auf dem Bett, die Ellbogen auf die Knie und das Kinn in eine Hand gestützt. Die Wunde in seinem Gesicht war mit weißem Verbandszeug verklebt worden. Vermutlich konnte er von Glück sagen, dass die Peitsche nicht sein Auge getroffen hatte, und doch wirkte er so gequält und verletzlich, dass ihr Herz sich zusammenzog. Tomás, der mit der Zunge so schnell war wie der Cura mit der Absolution, schwieg still oder gab einsilbig Antwort. Essen wollte er nichts. »Warum legst du dich nicht schlafen?«, fragte er sie. »Du bist doch sicher erschöpft.«
»Kann ich denn nichts mehr für dich tun?«
Ein wenig steif schüttelte er den Kopf. »Ich bin in Ordnung. Mach dir keine Sorgen.«
Mit Vorsicht, als wäre sein ganzes Gesicht verletzt, küsste sie ihn auf die Stirn, wünschte ihm gute Nacht und ging. Auf dem Gang traf sie ihre Mutter, die aus dem Zimmer kam, in das sie Teiuc einquartiert hatte, und leise die Tür schloss. »Schläft er?«, fragte sie.
Die Mutter nickte. »Carmen hat mir ihre Salbe gegen Entzündungen gegeben. Solche Peitschen schlagen tiefe Wunden, und wenn eine davon sich infiziert, kann ein Mann im Nu
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