Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
daran sterben. Zur Sicherheit lasse ich morgen Ernesto holen und nach ihm sehen.« Als sie aufblickte, sah Anavera, dass ihr Gesicht nass und angespannt war.
»Mamita.« Sie ging zu ihr und nahm ihre Hand, die schlaff hinunterhing. »Sollen wir wieder zusammen Mezcal trinken und noch ein bisschen reden? Ich glaube, schlafen kann ich noch nicht.«
Die Mutter lächelte schwach. »Mezcal nicht, obwohl ich der Versuchung vorhin fast erlegen wäre. Ich denke, ich fände es ein wenig würdelos, jetzt zu trinken, und ich möchte nicht ausgerechnet heute würdelos sein. Aber reden wäre schön.«
Sie gingen ins Büro, wo kein Mitglied der Familie sie stören würde.
»Danke«, sagte die Mutter, die Stimme gequält wie vorhin, nachdem sie Teiuc befreit hatte. »Nur eine kleine Weile, ja? Dann musst du zurück zu deinem Tomás, der dich heute mehr braucht als ich.«
»Tomás braucht mich nicht«, widersprach Anavera. »Er hat gesagt, ich soll schlafen gehen.«
»Hör nicht auf ihn«, sagte die Mutter, der die Stimme zum Krächzen schrumpfte. »Er kann es dir jetzt nicht eingestehen, aber er hat dich noch nie so gebraucht.«
»Mamita, was ist denn mit dir?«, fiel Anavera ihr ins Wort. »Du kannst ja kaum sprechen. Ist es wegen Sanchez Torrija und Teiuc? Oder wegen Vater und Josefa?«
»Es ist alles zusammen«, flüsterte die Mutter. »Die Erinnerung ist es. All die Bilder, an die ich nie mehr denken wollte.«
»Was für Bilder?«
Die Mutter zögerte. Dann schloss sie die Augen und sprach. »Ich habe deinen Vater so gesehen. So wie Teiuc. An den toten Ast eines Baums gefesselt, dass es ihm die Schultern aus den Gelenkpfannen zerrte, der Rücken nackt, den Schlägen der Peitsche wie den Blicken der Gaffer ausgeliefert. Ich habe gesehen, wie das Leder ihm die Haut zerfetzte, über den Schulterblättern, die ich so sehr liebte. Die Geräusche bekomme ich nie mehr aus den Ohren – das entsetzliche, pfeifende Schnalzen, das Klatschen und die erstickten Laute, mit denen er sich die Schreie verbiss. Hundert Schläge, jeder einzelne höhnisch gezählt. Am Ende war sein Rücken eine blutige Masse, von der ich wusste, dass sie nie mehr heilen würde. Die Striemen im Fleisch nicht und erst recht nicht die in seinem Stolz. Sooft ich ihn in den Armen hielt, habe ich mir gewünscht, ich könnte diese Striemen heil lieben. Dein Vater ist stärker als alle Männer, die ich jemals kannte. Er hat sich nicht zerbrechen lassen, und er hat sich nicht hinreißen lassen, eine Wahnsinnstat zu begehen. Das ist es nämlich, was sie erreichen wollen, wenn sie unseren Männern das antun – sie wollen ihren Stolz brechen oder sie dazu treiben, sich an den Galgen zu bringen.«
Anavera stellte keine Frage. Sie wusste auch so, wovon die Mutter sprach.
»Lass Tomás nicht allein damit«, sagte sie. »Wenn du heute Nacht bei ihm schlafen willst, werde ich dich nicht hindern. Im Frühjahr heiratet ihr ohnehin, und es gibt Augenblicke, da muss Zärtlichkeit schwerer wiegen als Moral.«
Anavera lauschte dem Klang des Satzes nach. »Ich habe Angst«, erklärte sie dann. »Angst, dass Tomás nicht so stark ist wie Vater. Dass er die Entwürdigung nicht einstecken kann und Sanchez Torrija erwürgt.«
»Bleib heute Nacht bei ihm«, erwiderte die Mutter. »Gib ihm, was Ollin seinem Bruder nicht geben konnte – zeig ihm, dass du dich nicht für ihn schämst, sondern stolz auf ihn bist. Wenn er das von dir bekommt, besitzt Sanchez Torrija nicht die Macht, ihm seine Würde zu nehmen.«
Sie umarmten sich, ehe sich Anavera auf den Weg machte. »Es tut mir so leid, dass Vater nicht bei dir sein kann«, sagte sie. »Du musst ihm furchtbar fehlen.«
»Das will ich hoffen, denn er fehlt mir noch viel furchtbarer.« Die Mutter gewann ihre Fassung zurück. »Mir tut es auch leid, mein Liebes. Wir haben gedacht, wir schicken euch in eine Welt, die gesund ist und es euch erlaubt, das Leben leichtzunehmen. Und jetzt bekommt ihr eine, in der es vor lauter Nebel schwer ist, sich zurechtzufinden. Aber ihr nehmt es mit ihr auf, mit eurer Welt, nicht wahr? Ihr habt einander, und wenn ihr uns Alte noch braucht – ich hoffe, dann habt ihr auch uns.«
»Da haben wir Glück«, sagte Anavera im Gehen. »Ihr habt es uns so lange leichtgemacht, dass es jetzt ruhig einmal schwer sein darf.«
Tomás lag rücklings auf dem Bett und starrte an die Decke, als Anavera ins Zimmer trat. Er hatte kein Licht gemacht. Sie verriegelte hinter sich die Tür. Sich neben ihn zu legen,
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