Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
sie die Schrift, die knapp hundert Seiten umfasste, nicht dem Vater widmen und sie ihm als verfrühtes Weihnachtsgeschenk überreichen? Allein, ohne Martinas Hilfe, fand sie eine Buchbinderei und ließ sich ihren Text in feines sandfarbenes Leinen binden. Auf die Widmungsseite schrieb sie in ihrer schönsten Handschrift: »In Liebe. Deine Tochter Josefa.«
Weil sie in Stimmung war, kaufte sie sich in einem der vornehmen Warenhäuser am Paseo de la Reforma ein neues Kleid für den Abend. Dass Jaime Sanchez Torrija gesagt hatte, nur Frauen ohne Stil ließen ihre Kleider nicht maßschneidern, sollte ihr egal sein, und das neue Kleid durfte jedwede Farbe haben, nur nicht Grün. Sie hielt sich an Tomás’ Rat, entschied sich für ein tiefes königliches Blau und erntete ein Kompliment des Verkäufers: »Für dieses Kleid muss ein Mädchen strahlen, und sie muss die Haltung einer Fürstin haben. Bei Ihnen trifft beides zu.«
In der Nacht vor dem großen Tag träumte sie nicht von Jaime Sanchez Torrija. Von Martinas Friseur ließ sie sich das Haar richten, legte ein wenig Schminke auf, und als Felice von der Arbeit kam, blieb sie staunend in der Tür stehen. »Du bist sehr schön, Josefa«, sagte sie mit ihrer verhuschten Stimme. »Gehst du aus? Sollten wir nicht besser deinen Vater fragen, ob es recht ist?«
»Ich gehe ja mit meinem Vater aus!«, jubelte Josefa, packte die altjüngferliche Base um die Taille und schwang sich mit ihr durch die Sala. Über Felices Gezappel musste sie lachen. »Wenn wir aus Querétaro zurückkommen, müssen wir dich ausführen, Feli. Du darfst uns doch nicht hier in der Wohnung versauern.«
»Keine Sorge«, bekundete Felice, »das tue ich schon nicht.« Dann hob sie ihre abgewetzte Tasche vom Boden und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück. Josefa setzte sich fertig angekleidet auf ihren Balkon, wo sie den Wagen des Vaters sehen würde, sobald er in ihre Straße einbog.
Der Vater kam eine halbe Stunde zu spät. Er sprang noch in der Fahrt aus dem Wagen und stürmte zu ihrem Haus. Ein Mann seines Alters sollte eine distinguiertere Gangart wählen, nicht in Gehrock und Gouverneursschärpe rennen wie ein Laufbursche, aber ihr gefiel es. Sie ging, um ihn an der Tür zu empfangen. Er nahm drei Stufen auf einmal, als hätte er den Abend herbeigesehnt wie sie.
»Josefa.«
»Tahtli.«
Sie lächelte ihm entgegen, doch beim Blick auf sein Gesicht spürte sie, wie das Lächeln ihr erstarb.
»Josefa, ich kann …«
Schlagartig wusste sie, was er ihr sagen wollte, aber sie machte es ihm nicht leichter.
»Ich kann nicht bleiben«, sagte er endlich, blieb auf dem Treppenabsatz stehen und senkte den Kopf.
»Du hast es mir versprochen«, presste sie gegen Tränen heraus und kam sich erbärmlich vor. »Du hast gesagt, es gibt nichts, das du dir dazwischenkommen lässt.«
»Es gibt doch etwas«, sagte er. »Der Präsident hat einen Bekannten wissen lassen, dass Miguels Deportation beschlossen ist. Wenn ich nicht heute versuche, noch einmal Aufschub zu erreichen, ist er morgen früh auf dem Weg nach Yucatán.«
»Was ist das eigentlich, dieses Yucatán?« Josefas Stimme klang unnatürlich schrill. »Ich dachte, es sei irgendeine Halbinsel im Süden, wo es immer heiß ist und in Massen Henequen und Zucker wachsen. Aber wenn man dir und Tomás zuhört, könnte man meinen, es wäre eine Vorhölle.«
»Ich glaube, Yucatán war als Paradies gedacht«, sagte ihr Vater, »aber die Vorhölle haben wir daraus gemacht. Dorthin schicken wir Häftlinge, die wir nicht auf Staatsbefehl morden, sondern lieber an Hunger und Misshandlung verrecken sehen wollen. Das taugt auch zur Abschreckung. Yucatán ist der einzige Teil Mexikos, in dem ein Indio-Volk sich behauptet und einen unabhängigen Staat gegründet hat – Chan Santa Cruz. Das ermutigt die Rebellen im Grenzgebiet, aber wenn dieses Pack erst zu sehen bekommt, wie wir unsere Umstürzler bewusstlos peitschen und am Wundfieber sterben lassen, kommt es womöglich zur Vernunft.«
Sie hatte ihren Vater nie zuvor zynisch erlebt. Es war so einschneidend, dass es ihr die Sprache verschlug.
»Verzeih mir«, sagte er nach einer Weile des Schweigens. »Ich wollte dich nicht in Schrecken versetzen.«
»Doch, das wolltest du«, erwiderte sie mühsam. »Du wolltest mir klarmachen, dass ich wieder verzichten muss, weil mein lächerliches Abendessen und mein lächerlicher Text zu nichts verpuffen vor dem furchtbaren Schicksal, das Miguel bedroht.«
»Dein Text ist
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