Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
Vom Netzwerk:
ihrem Vater gehören. Dann verschluckten die übrigen Geräusche die Stimmen, und Josefa war sicher, sie müsse sich geirrt haben.
    Gleich darauf geschah dasselbe noch einmal, und als es das dritte Mal geschah, war sie sich sicher. Es war ihr Vater, der gesprochen hatte. Sie sprang vom Trittbrett, ging ein paar Schritte in Richtung der Bäume und lauschte angestrengt ins Dunkel. Jetzt sprach die andere Stimme, die schwächer und schlechter zu verstehen war. Eine Frauenstimme. Einen Augenblick lang kam es Josefa vor, als würde die Sprechende gegen Tränen kämpfen. Sie ging noch ein paar Schritte, und dann sah sie hinter den Stämmen den Umriss eines weiteren Wagens, eines geschlossenen Einspänners ohne Bock.
    Etwas in ihr rief ihr eine Warnung zu: Geh nicht weiter. Dreh dich um und mach, dass du nach Hause kommst. Sie hörte nicht hin und ging zwischen den Bäumen hindurch auf den fremden Wagen zu. In der Kabine saß eine Dame, die Josefa schon einmal gesehen hatte – auf dem Ball am Unabhängigkeitstag. Sie war irgendjemandes Tochter, hatte mit ihrem Vater getanzt, und Josefa hatte ihre Schönheit im schwarzen Ballkleid atemberaubend und einschüchternd gefunden. Jetzt trug sie ein rotes und war nicht weniger atemberaubend, auch wenn ihre Frisur sich löste und Tränen ihr Gesicht hinunterliefen. Der Mann, der neben ihr auf dem Sitz saß, hatte den Arm um sie gelegt und rieb ihr mit der freien Hand die Tränen von den Wangen.
    In der Geste lag eine Zärtlichkeit, die über alle Worte hinausging. Josefa hatte sie selbst unzählige Male gespürt. Ihr Herz raste, als wollte es ihren Brustkorb sprengen. Von irgendwoher nahm sie die Kraft, nicht zu stürzen, sondern sich umzudrehen und davonzulaufen, blind und wirr und außer sich.
    Auf dem Platz mit den Wagen musste sie innehalten und sich an eine der Kabinen lehnen. Durch ihren Kopf hallte die ungeheuerliche Wahrheit: Ihr Vater hatte eine Geliebte. Er sagte ihre Verabredungen ab und erzählte ihr Greuelmärchen über Miguel und Yucatán, während er sich in Wirklichkeit mit seiner Geliebten traf. Mit seiner Geliebten, die nicht viel älter, aber hundertmal schöner, weltläufiger und klüger war als seine linkische Tochter Josefa.
    Die Liebe zwischen ihren Eltern gehörte zu den Legenden von El Manzanal. Sie war ein Lied, das die Alten über ihren Kochfeuern wisperten und dem die Jungen im Tanz neue Strophen dichteten. Die Liebe zwischen der behüteten Hamburger Kaufmannstochter und ihrem indianischen Pferdeknecht war ein Wunder, an dem sich die Menschen um den Rancho festhielten und in dessen Geborgenheit drei Kinder aufgewachsen waren. Sie war noch etwas – eine Lüge. Ihr Vater hatte eine Geliebte.
    Bei der Absperrung war ein Mann im Begriff, in seinen Wagen zu steigen. Ein Geräusch, das Josefa machte, ließ ihn den Kopf wenden. »Diesmal wollten Sie aber nicht zu mir, oder etwa doch? Ich rate Ihnen, bleiben Sie bei Ihrem Entschluss, kleine Josefa Alvarez. Geben Sie sich mit dem heimtückischen Dämon nicht ab – Ihr klecksender Verehrer wäre Ihnen mächtig böse.«
    Sein Kutscher hatte die Laterne über der Tür schon entzündet, und seine Augen schimmerten im gelben Licht. Josefa dachte nicht nach. Eine andere schien für sie zu handeln und über die Kraft zu verfügen, die ihr fehlte. Sie richtete sich auf und straffte die Schultern, ließ ihren Text fallen und stellte einen Fuß auf die Seite, die der Wind aufblätterte. »In Liebe«, stand darauf. »Deine Tochter Josefa.«
    »Doch. Ich wollte zu Ihnen«, sagte sie. »Der klecksende Verehrer ist mein künftiger Schwager, der sich um seinen eigenen Dreck kümmern soll.«
    »Und dessen sind Sie sicher, Josefa? Sie spielen nicht wieder ein Spiel mit mir und bleiben hinterher wochenlang fort?«
    Er brauchte sie. Er hatte sich nach ihr verzehrt, wie sie sich nach ihm. Mit dem zweiten Fuß zerfetzte Josefa den sandgelben Einband, lief auf Jaime zu und stand vor ihm still. »Ich bleibe nie mehr fort«, sagte sie. »Wenn Sie mich noch wollen, können Sie mich haben.«

Dritter Teil
    Querétaro, Santa María de Cleofás, Rancho El Manzanal
Weihnacht 1888
    »Was für prächtige Paläste, was für fabelhafte Lichter!
    Und die Gebäude, wie hoch sie hinaufragen!
    Ich aber bin allein, ich kenne keinen Menschen.
    Ich höre sie sprechen, aber ich weiß nicht, worüber.
    Wenn ich frage, zucken sie die Schultern – und gehen weiter.«

    MANUEL GUTIÉRREZ NÁJERA

19
    K atharina trat in die kleine Sala, die sie in

Weitere Kostenlose Bücher