Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
ihrem Flügel des Hauses für ihre Familie eingerichtet hatte. Für gewöhnlich schmückte sie ihre Räume mit Palmzweigen, frischen Blumen und dem deutschen Weihnachtsschmuck ihrer Mutter, in diesem Jahr aber hatte sie aus Rücksicht auf Abelinda und Carmen darauf verzichtet. Sie hatte den Tag auf dem Grundamt in der Stadt verbracht, um den Pachtvertrag für Acalans Familie zu erweitern, hatte sich mit zahlreichen Stolpersteinen herumschlagen müssen und hatte den ganzen Kampf von Herzen satt.
Anschließend hätte sie zum Bahnhof gehen und ihren Mann abholen können, aber etwas in ihr hatte sich gesträubt. Sie war fast sechzig. In ihrem Alter konnte man höchstens einmal mit klopfendem Jungmädchen-Herzen an einem Bahngleis stehen und enttäuscht von dannen trotten, ein zweites Mal hätte ihrer Selbstachtung den Rest gegeben.
Stattdessen war sie mit Teiuc und Ollin ins Dorf gefahren, um an der Posada teilzunehmen, dem traditionellen Umzug, der an den neun Tagen bis zur Heiligen Nacht in den Gassen von Santa María de Cleofás stattfand. Jeder der Tage stand für einen der neun Monate, in denen die Heilige Jungfrau das Gotteskind in ihrem Leib getragen hatte. In leuchtend bunten Kostümen zogen die Kinder von Haus zu Haus, um die Herbergssuche des heiligen Paares nachzustellen, gefolgt vom Cura und den Messdienern, die die Madonnenstatue aus der Kapelle trugen, und schließlich von sämtlichen Bewohnern des Ortes.
Katharina war protestantisch aufgewachsen, doch der farbenprächtige, dramatische Katholizismus der Leute in den Bergen, in den sich Reste des alten Götterglaubens mischten, hatte sie von jeher gefesselt. Nach dem Umzug wurde in den Straßen getanzt. Frauen verteilten die runden Polverones, ein Gebäck aus Nüssen, und würzig gefüllte Molletes, Kinder zerschlugen Piñatas und balgten sich um Früchte und Naschwerk, und Männer ließen Pulque-Krüge kreisen. Das Fest war eine gute Gelegenheit, sich für kurze Zeit Frieden vorzugaukeln, und eine noch bessere, erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen.
Dass Josefa nicht gekommen war, wusste sie. Benito hatte ihr ein Telegramm geschickt. Wenn er seinen Schwur gebrochen hatte und selbst in der Hauptstadt geblieben war, würde sie es früh genug erfahren. Und wenn er gekommen war? Sie wusste es nicht, zog es nur vor, ihm nicht sofort zu begegnen. Vielleicht brauchte sie Zeit. Es war schwer, von jemandem enttäuscht zu werden, der nicht einmal die Schuld daran trug.
Wie still es jetzt war nach dem Lärm in den Gassen. Einzig die Tischlampe brannte in dem behaglichen Raum. Katharina trat ein und sah ihren Mann. Er saß in einem der Korbsessel, die er ihr aus Veracruz hatte schicken lassen, weil Veracruz die Stadt ihrer Liebe war. Alle Welt beneidet mich um ihn, weil er ein so vernünftiger Mann ist, fuhr es ihr durch den Kopf. Ich aber liebe ihn, weil er ein so verrückter Mann sein kann und immer geblieben ist. Er musste sich hergesetzt haben, um auf sie zu warten, doch die Müdigkeit hatte ihn übermannt. Ohne sich des eleganten Rocks zu entledigen, hatte er seinen geschmeidigen Körper in die Form des Sessels geschmiegt und den Kopf nach vorn fallen lassen, das dichte Haar über Stirn und Augen.
Sie hatte nicht gewusst, ob sie nicht eigentlich ein Hühnchen mit ihm zu rupfen hatte. Jetzt sah sie ihn an, ihren schönen, todmüden Mann, und wusste, dass alle Hühner der Welt ihr gestohlen bleiben konnten. Verdammt, ich habe dich vermisst, Benito, dachte sie. Glaubt einer Frau von fast sechzig noch jemand, dass Vermissen nicht allein im Kopf, sondern ebenso unter den Rippen stattfindet – und am wildesten zwischen den Schenkeln? Sie ging zu ihm, setzte sich auf die Sessellehne und beugte sich über sein Gesicht. Ehe sie ihn küsste, erwachte er, und in seine Augen sprang ein Lächeln.
»Ichtaca.«
Das Wort bedeutete Geheimnis. Solange sie sich kannten, hatte er sie bei diesem Namen gerufen, und aus seinem Mund klang es noch immer, als hätte er gerade erst entdeckt, dass sie das Geheimnis seines Lebens war.
Sie hielt ein wenig Abstand und fuhr mit einem Finger seine Braue nach.
»Hast du dich anders entschieden?«, fragte er. »Ist dir dein alter Mann jetzt endgültig zu sehr zum schrumpeligen Waldgeist geworden?«
»Was meinst du?«
»Eben hat dein Mund noch ausgesehen, als wolltest du mich küssen.«
»Das will ich noch immer«, gestand Katharina nachdenklich. »Aber ein Teil von mir fragt sich, ob es nicht angebrachter wäre, dir
Weitere Kostenlose Bücher