Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
Sie war stark zerklüftet, stärker als auf der gesamten bisherigen Strecke, bot also gute Möglichkeiten für Füße und Hände. Würde mich aber zwingen, sekunden- oder minutenlang praktisch mit dem Rücken nach unten über dem Abgrund zu hängen, ehe ich es hoffentlich schaffte, mich über den Rand nach oben zu ziehen. Wobei ich oben nichts haben würde, woran ich mich festhalten konnte. Ein Grasbüschel vielleicht.
Das aller Wahrscheinlichkeit nach mein Gewicht nicht würde halten können.
Der Schweißausbruch überschwemmte diesmal auch mein Gesicht, überzog meine Haut mit einem feinen kalten Film.
Das schaffe ich nicht. Das kann ich nicht schaffen.
Ich schaute hinüber zur Treppe. Wenn mir hier oben gelang, was unten nicht zu machen gewesen war, nämlich die Stufen zu erreichen, konnte ich vergleichsweise komfortabel das letzte Stück zurücklegen. Es war gewagt, aber wahrscheinlich etwas weniger riskant als die andere Option.
Gut, Jenna, okay, verliere jetzt bloß nicht die Nerven. Du bist ganz schön gut gewesen bisher. Verdammt gut. Du schaffst auch den Rest.
Genau in diesem Moment nahm ich es wahr. Für den Bruchteil einer Sekunde, so kurz, dass ich gleich darauf schon glaubte, einer Einbildung erlegen zu sein: Zigarettenrauch. In dem eigentlich alles andere überlagernden Geruch nach Meerwasser und Algen, nach Feuchtigkeit und Salz glaubte ich, den Rauch einer Zigarette zu riechen.
Quatsch. Denk gar nicht darüber nach. Das hast du geträumt.
Im nächsten Moment flog sie direkt an mir vorbei. Eine Zigarette. Eine Kippe eigentlich, noch glühend. Sie hätte mich fast getroffen, verfehlte mich aber und verschwand Richtung Meer.
Diesmal wusste ich, dass ich mich nicht getäuscht hatte.
Da oben stand jemand.
Jemand, der eine Zigarette geraucht hatte.
Mein allererstes spontanes Gefühl war unbändige Erleichterung. Ein Wanderer, der mir helfen würde. Ich war nicht mehr allein in dieser Einöde und in dieser grauenhaften Situation. Da oben war ein Mensch. Der Hilfe holen konnte, die Feuerwehr, die Polizei, die Seewacht, wen auch immer.
Ich öffnete bereits den Mund, um laut schreiend auf mich aufmerksam zu machen. Im letzten Moment klappte ich ihn wieder zu. Ein Instinkt, das fast überwältigende Gefühl einer plötzlichen Gefahr stoppte mich.
Was, wenn es Ken war?
Ken, der auf Nummer sicher gehen wollte. Dem es nicht gereicht hatte, mich niederzuschlagen und in der Höhle liegen zu lassen. Der sich vergewisserte, dass ich ihm wirklich nicht mehr gefährlich werden konnte.
Ken, der dort oben wartete, bis die Höhle vollständig geflutet war, und der kontrollierte, dass ich es nicht irgendwie bis zur Treppe geschafft hatte. Wenn es so war, dann konnte ich Gott danken, dass mir der Weg über die Treppe verwehrt geblieben war. Dort hätte er mich längst gesehen, und er hätte Gegenmaßnahmen ergriffen. Wäre mir entgegengekommen und hätte mich mit einem gezielten Tritt nach unten befördert. Völlig am Ende meiner Kräfte, wie ich war, hätte ich ihm nichts entgegenzusetzen gehabt.
Ich konnte es nicht riskieren, einen Laut von mir zu geben. Grauen überkam mich bei der Vorstellung, ich wäre arglos weiter nach oben geklettert und plötzlich in sein Sichtfeld geraten. Hier, wo ich mich gerade befand, konnte er mich nur schwer entdecken, er hätte sich sehr weit über den Klippenrand nach vorn lehnen müssen. Wahrscheinlich aber vermutete er mich gar nicht an dieser Stelle. Er behielt die Treppe im Auge.
Wie lange würde er das tun?
Nicht ewig, so viel war klar. Er musste weg. Allerdings war ihm im Augenblick noch niemand wirklich auf der Spur. Garrett war der einzige Mensch, der wusste, dass ich zu ihm gefahren war, und er würde zwar wütend sein, weil wir ihm sein Auto so lange vorenthielten, aber er würde kein Verbrechen vermuten, dessentwegen er sich an die Polizei wenden würde.
Blieben die Kinder. Was hatte Ken mit ihnen gemacht? Konnten sie zu einer Gefahr für ihn werden? Ich konnte es nur hoffen.
Vielleicht hatte er die Kippe weggeworfen und sich dann zum Gehen gewandt.
Vielleicht stand er aber auch noch dort.
Das Tosen der Brandung war so laut, dass ich nichts hören würde, wahrscheinlich nicht einmal, wenn er niesen musste oder hustete.
Ich würde es auch nicht hören, wenn das Auto startete. Dafür stand es zu weit weg.
Starr vor Angst und Grauen kauerte ich mich in die winzige moosbewachsene Kuhle. Ich zitterte am ganzen Körper, aus Furcht, aus Schwäche und vor Kälte.
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