Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
Horror dar. Hätte man mich gefragt, was ich mir als die denkbar schlimmste Situation, in die ich geraten könnte, vorstel len würde, so hätte ich diese Szene genannt: auf diesem schmalen Felsgrat im wadenhohen Wasser zu stehen, unter mir tosende Wellen, über mir ein stürmischer Himmel, vor mir eine steile Felswand. Selbst im topfitten Zustand wäre ich überzeugt gewesen, hier nicht lebend herauszukommen. So war ich aber noch zusätzlich schwer angeschlagen: Nach wie vor konnte ich nur mit dem rechten Auge sehen, trieben mich Kopf- und Gesichtsschmerzen fast in den Wahnsinn. Mir war übel, meine Beine wollten mich nicht richtig tragen, meine Arme zitterten. Ich verspürte quälenden Durst. Mir war es noch nie vorher körperlich so schlecht gegangen. Und ausgerechnet in diesem Zustand sollte ich versuchen, eine steile Felswand zu erklimmen? Ohne Rettungsseil, ohne irgendetwas, das mich sicherte?
Ich sank auf die Knie, ließ den Schaum der nächsten Welle fast teilnahmslos über mich spritzen. Ich würde hier sterben. Am Tag nach meinem dreiunddreißigsten Geburtstag.
Ich fing an zu weinen. Besser gesagt, mein rechtes Auge weinte. Mein linkes konnte nicht. Es begann nur mörderisch zu brennen. Selbst das Heulen tat zu weh, als dass ich mich ihm hingeben konnte.
Ich schluckte die Tränen hinunter. Dann hob ich den Kopf, spähte nach oben. Die Wand über mir war ausgesprochen steil, aber sie war nicht glatt. Die anstürmende See hatte den Felsen schroff und rau werden lassen, hatte ihn mit Kerben und Einschnitten versehen. Allerdings konnte ich keine einzige Stelle entdecken, von der ich den Eindruck gehabt hätte, dort einigermaßen sicher stehen zu können. Ich konnte nur Stellen finden, die vielleicht die Möglichkeit boten, meine Zehen irgendwo abzustützen und gleichzeitig meine Finger in einen Minispalt zu graben.
Die nächste Flutwelle kam mit einer Wucht heran, dass sie mich um ein Haar umgerissen hätte. Es wurde zu gefährlich, noch länger hier zu verharren. Wenn ich ins Wasser fiel, würde ich zerschmettert werden. Ich musste zu klettern beginnen, ohne mir eine Route zurechtgelegt zu haben. Abgesehen davon gab es ohnehin keine Route. Ich würde jeden einzelnen Moment neu entscheiden müssen, wie es weitergehen sollte.
Ich begann den Aufstieg.
Seitdem ich mit achtzehn Jahren gewissermaßen über Nacht mein Elternhaus verlassen hatte und auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, hatte ich meiner Mutter jedes Jahr zwei Karten geschickt – ohne darauf zu verraten, wo ich mich aufhielt oder wie sie mich erreichen konnte. Es ging nur darum, ihr ein Lebenszeichen zukommen zu lassen, damit sie nicht glaubte, mir sei irgendetwas Schlimmes zugestoßen oder ich sei längst tot. Ich schrieb immer, dass es mir gut gehe und sie sich keine Sorgen machen solle. Eine Karte schickte ich ihr jeweils im Dezember zu ihrem Geburtstag – damit deckte ich dann auch gleich Weihnachten ab –, die andere schickte ich zu meinem Geburtstag im Juni. Das hatte ich wegen all der sich überschlagenden Ereignisse in diesem Jahr vergessen. Während ich mich langsam, in Millimeterarbeit, tastend und jeden Stein sorgfältig ausprobierend, nach oben arbeitete, fragte ich mich, ob sie das Ausbleiben meiner Geburtstagskarte bereits bemerkt hatte und ob es sie nervös machte. Wenn ich meine Mutter in wenigen Worten zu charakterisieren hätte, würde ich sagen: verbittert, gefühlsarm, kalt, streng. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in Verzweiflung geriet, nur weil das Lebenszeichen von mir ausblieb, aber letztlich hatte ich auch immer nur ihre Fassade gesehen. Vielleicht verbarg sich ein anderer Mensch dahinter – die Frau, die sie möglicherweise gewesen war, ehe sie viel zu jung zur Witwe wurde und mit einer Tochter zurückblieb, die ihren Vorstellungen und Wünschen in nichts entsprach. Meine Mutter hatte so wenig von sich preisgegeben, dass ich sie eigentlich gar nicht richtig kannte. Darüber hinaus wusste ich nicht, wie es ihr ging. Vielleicht war sie längst tot, vielleicht vegetierte sie schwer krank irgendwo dahin. Vielleicht waren meine Karten ihr einziger Halt. Vielleicht waren sie ihr aber auch völlig gleichgültig.
Ich schwor mir, ihr sofort zu schreiben, sollte ich das hier überleben. Ihr mitzuteilen, wo ich war, und sie zu fragen, ob wir einander sehen könnten. Es war seltsam, aber während ich mich Stück um Stück nach oben schob, es krampfhaft vermied, nach unten zu blicken, mit zusammengebissenen Zähnen
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