Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
ausfüllte, aber klar war, dass mir nicht viel Zeit blieb.
Ich drehte mich vorsichtig um, sehr langsam, weil der Schmerz in meinem Kopf zu heftig war, als dass er rasche Bewegungen gestattet hätte. Ich zuckte vor dem Tageslicht zurück, das den Eingang der Höhle oberhalb des dunklen, bedrohlich gurgelnden Wassers füllte. Die Helligkeit tat so weh, dass ich sekundenlang auch mein unversehrtes Auge schließen musste. Wie ein kleiner, blinder Maulwurf hockte ich auf meinem Felsen und spürte, wie das Wasser stieg. Die Verzweiflung drohte mich zu überwältigen. Ich würde es nicht schaffen. Der Rückweg war versperrt, die Flut zu stark. Ich würde hier oben sitzen, solange es ging. Dann würde ich ertrinken. Qualvoll und bei vollem Bewusstsein.
Es wäre besser gewesen, Ken hätte mich gleich getötet. Es wäre einfach schneller gegangen. Ich hätte nicht ausweichen sollen.
Ken ist hier irgendwie rausgekommen, und zwar vor nicht allzu langer Zeit, also schau, ob es eine Möglichkeit gibt, meldete sich die Stimme in meinem Inneren wieder, was er geschafft hat, schaffst du auch!
Ich war da nicht allzu optimistisch. Ken kannte sich hier aus, ich nicht. Außerdem war das Wasser inzwischen erheblich gestiegen. Vielleicht würde es selbst Ken jetzt nicht mehr gelingen, sich aus dieser tödlichen Falle zu retten.
Dennoch öffnete ich mein Auge wieder und robbte ein Stück auf den Ausgang zu. Mehrfach spritzte die Gischt über mich hinweg. Ich war völlig durchnässt, deshalb fror ich auch so. Immer wenn das Wasser sich ein Stück zurückzog, um neuen Anlauf zu nehmen, krabbelte ich rasch weiter. Wenn die nächste Welle kam, duckte ich mich, presste meinen Körper eng an die Wand, hielt meinen Kopf mit beiden Händen umklammert und versuchte nicht, mich durch das hochschießende Wasser hindurch weiter nach vorn zu arbeiten. Dafür war meine Lage zu riskant; ich hätte die Orientierung verlieren und von meiner Felsplatte stürzen können, halb blind und benommen, wie ich war, oder die Kraft des hochspritzenden Wassers hätte mich herabgerissen. Langsam, quälend langsam, gelangte ich an den Ausgang der Höhle. Vor mir war nur Meer. Nichts mehr zu sehen von dem kleinen Stück Sandstrand, das wir vor hin noch zu Fuß überquert hatten. Es schien nie da gewe sen zu sein. Die Flut hatte es gefressen. Wie sie jetzt die Höhle fraß.
Mich sollte sie nicht bekommen.
Vorsichtig spähte ich hinaus. Weit und breit keine Spur von Ken, was nicht verwunderlich war, er hatte sich längst in Sicherheit gebracht. War wahrscheinlich mit Garretts Auto unterwegs … Wohin? Er musste sehen, dass er England verließ. Was war aus seinen Kindern geworden? Er hatte für den heutigen Tag seine Flucht geplant, und er brauchte genügend Vorsprung, ehe aufflog, dass er sich aus dem Staub gemacht hatte. Das hieß, er hatte die Kinder in irgendeiner Form ruhigstellen müssen, damit er weit fort war, ehe sie heulend zu den Nachbarn liefen, weil sie Hunger oder Angst oder beides hatten. Sie schlafen, hatte er gesagt. Ich hoffte zutiefst, dass das stimmte. Schlafen konnte auch ein Synonym für Schlimmeres sein. Ich traute Ken inzwischen alles zu.
Denk über die Kinder später nach, Jenna. Du kannst ihnen nicht helfen, wenn du hier absäufst. Du musst jetzt die verflixte Steilwand hoch!
Ich hatte gehofft, zu der sogenannten Treppe vordringen zu können, die wir vorhin heruntergekommen waren. Sie war steil und schlimm genug, aber sie stellte eine echte Chance dar, wieder festen und vor allem sicheren Boden unter den Füßen zu finden. Aber nun sah ich, dass es nicht möglich sein würde. Die Treppe befand sich direkt gegenüber der Höhle, die Wand dazwischen war glatt, ohne Vorsprünge oder Kerben, ohne irgendetwas, worauf man seinen Fuß setzen, woran man sich festhalten konnte. Weiter unten, dort, wo jetzt längst das Wasser rauschte, mochte es auch oberhalb des Stückchens Strand noch Möglichkeiten gegeben haben, die überflutete Bucht zu überqueren. Inzwischen waren sie in den Wellen verschwunden.
Auf wackeligen Beinen richtete ich mich auf. An dieser Stelle ragte die Felsplatte, auf der ich stand, bereits ins Freie, sodass ich keine Begrenzung mehr über mir hatte. Krampfhaft hielt ich mich an den Unebenheiten der Wand fest, vermied es angestrengt, in das Meer unter mir zu blicken. Für einen Menschen, der zeitlebens mit dem Problem zu kämpfen gehabt hatte, nicht schwindelfrei zu sein, stellte die Situation einen geradezu grotesk anmutenden
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