Im Tal des Schneeleoparden
von Zeit zu Zeit zu ihnen herüber.
»Viele Menschen sind davon überzeugt, dass Schneeleoparden sehr klug sind«, griff Kim den Faden wieder auf. »Ich habe vor einiger Zeit eine ziemlich abenteuerliche Geschichte über ihre Jagdmethode gehört: Angeblich kommt es vor, dass ein Schneeleopard um eine Herde Wildschafe herumschleicht, um dann, wenn er oberhalb der Herde ist, in kurzer Folge einige Felsbrocken zu lösen und in die Herde rollen zu lassen. Sobald sich die Tiere daran gewöhnt haben, kauert er sich selbst zur Kugel zusammen und lässt sich direkt in die Mitte der unaufmerksamen Schafe rollen. Den Rest kannst du dir denken.«
Anna schüttelte amüsiert den Kopf. »Das nenne ich schlau.«
Wieder trat eine Pause ein. Anna ahnte, dass Kim genau wie ihr außer den Raubkatzen noch anderes im Kopf herumging. Auf dem Herweg hatte sie ihm in kurzen Worten erzählt, was sich eigentlich kaum in Worte fassen ließ. Kim war gebührend entsetzt gewesen und hatte im ersten Moment wenig Verständnis für alle Beteiligten, inklusive seiner eigenen Mutter, gezeigt, sich bisher aber mit Fragen zurückgehalten.
»Was hast du jetzt vor?«, wollte er nun wissen.
Anna seufzte. Sie hatte sich die Frage in den letzten beiden Tagen ein ums andere Mal gestellt. Sollte sie den Flug umbuchen und frühzeitig nach Hause zurückkehren? Aber was sollte sie dort tun? Den Mund halten und alles so weiterlaufen lassen wie bisher? Einen Skandal heraufbeschwören? Oder wäre es besser, für den Rest des Urlaubs hierzubleiben und zu versuchen, zur Ruhe zu kommen? »Wenn ich das wüsste«, sagte sie. »Einerseits kann ich es kaum erwarten, meinen Vater zur Rede zu stellen, andererseits scheue ich davor zurück.«
»Das kann ich dir nachfühlen. Es wäre sicher das Beste, etwas Abstand zu gewinnen, sonst wird dieses Gespräch fürchterlich.«
»Mein Problem ist, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, wer ich bin. Bisher bin ich einfach davon ausgegangen, das spießige Produkt meiner spießigen Eltern zu sein, aber nun spüre ich, dass da noch mehr ist, das sich in mir regt und immer größeren Raum einnimmt. Als ob Annapurna Annas Haut durchstoßen will, und ich habe ziemliche Angst vor diesem fremden Wesen in mir. Was will es? Wie denkt es? Verstehst du, was ich meine?«
Kim nickte.
»Ich muss mit Eddo sprechen, weil es meine einzige Möglichkeit ist, mehr über Mami zu erfahren – und damit über Annapurna.«
»Ist es wirklich die einzige Möglichkeit?«
»Fällt dir etwas Besseres ein? Deine Mutter hat mir alles erzählt, was sie wusste, und meine Eltern sind tot.« Sie brach ab. Die Erkenntnis, eine Waise zu sein, war überraschend gekommen und traf sie nun mit voller Wucht.
»Du könntest nach Nepal fahren«, sagte Kim nachdenklich.
»Was sollte das nutzen?«, fragte Anna bitter.
»Vielleicht hilft es dir, ein wenig mehr zu verstehen, sowohl sie als auch dich selbst.«
Anna lehnte sich gegen die Felswand. Nepal. Eine verlockende Idee. Zeit hatte sie, bis zu ihrem Rückflug waren es noch Wochen. Sie betrachtete den dösenden Schneeleoparden. Wie hatte Kim ihn genannt? Das Phantom der Berge? Auch ihr biologischer Vater war ein Phantom, und vielleicht gelang es ihr tatsächlich, einen Blick auf ihn zu erhaschen, wenn sie an den Ort reiste, an dem er und ihre Mutter glücklich gewesen waren. Je länger sie darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien ihr Kims Vorschlag. Und desto attraktiver, wie sie überrascht feststellte. Etwas wie Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Land, über das sie in den letzten Tagen so viel erfahren hatte, regte sich in ihr, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass Annapurna schon viel stärker von ihr Besitz ergriffen hatte, als sie für möglich gehalten hatte. Verrückterweise fühlte es sich sogar gut an. Sie streckte sich. Sofort zuckten die Ohren des Schneeleoparden in Erwartung eines neuen Spiels.
»Kommst du mit?«, fragte sie und erschrak im nächsten Moment über ihre eigene Spontaneität. »Ich meine, es wäre doch schön, gemeinsam …«, stotterte sie. Himmel, was hatte sie da losgetreten? »Vergiss einfach meine Frage«, murmelte sie in dem Versuch, wieder in sicheres Fahrwasser zu kommen.
»Nein, ich vergesse sie nicht. Ich hatte auf diese Frage sogar gehofft, weil ich nämlich sehr gern mit dir nach Nepal fahren würde.« Kim suchte ihren Blick.
Anna kribbelte die Kopfhaut vor Scham über die plötzliche Erkenntnis, dass sich der junge Kim – der vier, nein, sogar fünf Jahre
Weitere Kostenlose Bücher