Im Tal des Schneeleoparden
ebenfalls zum Winseln zumute war. Worauf willst du hinaus?«
»Hast du schon einmal vom Pangje gehört?«
»Natürlich. Jeder hat vom Pangje gehört, aber niemand bekommt ihn zu Gesicht. Wieso –« Tara unterbrach sich verblüfft. »Du meinst, der Alte ist der Pangje? Das kann nicht sein!«
»Warum nicht? Überleg doch: Der Mann tauchte plötzlich auf. Niemand weiß, wo er herkam, wo er hinwollte. Zu allen Fragen schwieg er, bis sich selbst Sarung nicht mehr traute, ihn anzusprechen. Und dann sein Verschwinden. Es waren sechs Wachtposten aufgestellt, sie hätten etwas sehen müssen.«
»Das haben sie auch«, unterbrach Tara tonlos. »Den Schatten einer großen Raubkatze. Erinnerst du dich an seine Augen? Es waren Katzenaugen!« Tara spürte, wie sich ihre Haare aufstellten. »Aber ihr habt den Alten doch aus den Händen der Polizei befreit! Das Phantom der Berge kann man unmöglich verhaften.«
»Nicht wenn er als Schneeleopard unterwegs ist. Aber als Mensch?«
Taras Gedanken wirbelten durcheinander. Der alte Mann sollte der Pangje sein? Der Mann, über den nur geflüstert wurde, von dem niemand wusste, wo er sich gerade aufhielt, geschweige denn, wo er lebte? Eines Tages sei er von den Bergen gestiegen, hieß es, und eine Schneeleopardin hätte ihn begleitet. Er sei die Inkarnation eines großen Lamas, flüsterten manche, ein tibetischer Prinz, raunten andere. Seine Mutter hätte ihn zu den Schneeleoparden gebracht, als die Chinesen kamen. Seitdem beherrsche er die Sprache der Tiere und des Windes. Nicht wenige behaupteten, er sei bösartig, und verrammelten Türen und Fenster, wenn er in der Gegend war. Andere bewunderten ihn. Tara tendierte zur ersten Variante, denn ein Mann aus einem der Nachbardörfer war schwer verletzt worden, als ihn der Pangje mit seinen Anhängern überfallen hatte.
Konnte dieser alte Mann tatsächlich der todbringende Schneeleopard sein? Tara mochte es kaum glauben, aber was, wenn dem wirklich so war? Wie hing alles zusammen? Der Alte kannte den Bhoot, und, noch unglaublicher, auch ihr Vater schien ihm kein Unbekannter zu sein. Tara rang nach Luft. Sie hatte plötzlich das Gefühl, sich in einem vor langer Zeit geknüpften Netz verfangen zu haben.
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29
A ls Anna am nächsten Morgen aufstand und den Vorhang aufzog, sah sie gerade noch Laksmi aus dem Haus hasten. Annas Wecker zeigte Viertel vor acht, und selbst wenn Laksmi die ganze Strecke zur ihrer Schule rannte, würde sie zu spät kommen. Anna kleidete sich an und eilte dann in den Gastraum, in der Hoffnung, Ingrid, Kim, Riddhi und Kaushik beim Frühstück anzutreffen. Sie waren tatsächlich noch nicht fertig und baten Anna auf Laksmis frei gewordenen Platz, Kim gegenüber.
Außer Rikki-Tikki waren alle anderen ungewöhnlich einsilbig. Selbst Rikki-Tikkis nicht enden wollendes Geplapper über eine neue Schulkameradin mit einem un-mö-gli-chen Kurzhaarschnitt, den Wurf junger Hunde im Nachbarhaus und tausend Dinge mehr konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich zumindest zwei der Anwesenden nicht trauten, die Stimme, geschweige denn die Augen zu heben. Kaum hatte Kim sein tibetisches Brot aufgegessen, sprang er auf und entschuldigte sich, weil es im Zoo einiges zu klären gab. Erst als er den Raum schon halb verlassen hatte, wagte er es endlich, sich direkt an Anna zu wenden.
»Holst du mich um dreizehn Uhr ab? Wir sollten noch ein paar Sachen für die Reise einkaufen.«
Anna nickte. Er hielt also tatsächlich an ihrem Plan fest. Sie hatte sich die halbe Nacht von einer Seite auf die andere gewälzt und darüber gegrübelt, ob sie die Sache abblasen sollte. Zu überstürzt, zu verwegen erschien ihr das Vorhaben, außerdem hatte sie Angst, sich getäuscht zu haben. Würde sie sich nicht völlig lächerlich machen, wenn er merkte, dass sie sich aus heiterem Himmel in ihn verliebt hatte? Was, wenn Kim tatsächlich nur wie ein Bruder für sie empfand? Alles sprach dafür: Zwar hatten sie gestern noch lange über die bevorstehende Reise gesprochen, doch hatte er die ganze Zeit ihren Blick gemieden und war ihr fast erleichtert vorgekommen, als sich Ingrid nach getaner Arbeit im Restaurant ins Wohnzimmer setzte und sie nicht mehr allein waren. Kurz darauf hatte sich Anna in ihr Zimmer zurückgezogen.
»Was für eine Reise?«, krähte Rikki-Tikki in ihre Gedanken. »Fährst du denn schon wieder?«
»Dein großer Bruder begleitet Anna nach Kathmandu«, erklärte Ingrid, bevor Anna antworten konnte.
»Cool. Seid ihr
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