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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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fehlte die Aggressivität, es wirkte fast, als würde es spielen.
    Als ahnte Kim ihre Gedanken, sagte er: »Keine Angst. Wir sind sicher. Darf ich vorstellen: Uncia uncia, auch Irbis genannt, oder Schneeleopard. Der Herrscher der hohen Berge, und in diesem speziellen Falle unglaublich verspielt. Pass auf.« Kim ging ein paar Schritte beiseite und lehnte sich dann lässig gegen die Felswand, ohne dem Schneeleoparden Beachtung zu schenken, er blickte im Gegenteil ostentativ in die andere Richtung. Die Aufmerksamkeit des Schneeleoparden sprang sofort von Anna zu Kim. Wie in Zeitlupe rollte er sich zur Seite und erhob sich dann. Anna empfand es als Privileg, das prachtvolle Tier aus nächster Nähe betrachten zu dürfen, kaum eine Armlänge entfernt und nur durch den fragilen Zaun von ihm getrennt.
    Der Schneeleopard war nicht sehr hoch, seine Schultern erreichten gerade einmal Annas Hüfte, doch seine gedrungene Statur und sein mächtiger Brustkorb ließen die ihm innewohnende Stärke ahnen. Anna atmete tief durch. Dieser Schneeleopard war ein Meisterwerk der Schöpfung, kraftvoll und schön.
    Ohne Kim aus den Augen zu lassen, entfernte sich das Meisterwerk und verschwand hinter einem der Felsblöcke in seinem für Zooverhältnisse weitläufigen Reich, in dem sogar einige Bäume Platz hatten. Endlose Minuten lang passierte nichts. Als Anna etwas sagen wollte, winkte Kim ab. »Gleich«, sagte er, und tatsächlich wackelte in der nächsten Sekunde das Gitter erneut unter der Wucht des Aufpralls. Anna hätte nicht sagen können, von welcher Stelle der Schneeleopard so blitzschnell seinen nächsten Angriff gestartet hatte, und wieder pumpte das Adrenalin durch ihre Adern, angereichert mit einer guten Portion Endorphinen. Niemals war sie einem wilden Tier so nahe gewesen, und sie genoss es.
    Mindestens zwei Dutzend Male wiederholte sich der Angriff nach demselben Muster. Hin und wieder entdeckten Anna und Kim die Schwanzspitze oder ein Ohr des Schneeleoparden, aber meistens brach der Sturm aus unvermuteten Ecken über sie herein, und zuverlässig sprang Anna das Herz in der Brust. Mochte es auch ein Spiel sein, so war es doch ein Jagdspiel, und Anna wollte sich gar nicht ausmalen, was passierte, sollte sie diesem Tier oder einem seiner Artgenossen irgendwo ohne den schützenden Zaun begegnen. Kim erzählte ihr unterdessen von den Phantomen der Berge. Sie waren sehr selten, maximal siebentausend, vielleicht aber auch nur viertausend Exemplare streiften noch in Freiheit durch ihre eiskalten und zerklüfteten Reviere, verteilt über den Himalaya, den Hindukusch, den Pamir, das Kunlungebirge und bis hinauf in die Himmelsberge und den Altai. Die Fellzeichnung tarnte die Tiere perfekt vor einem Hintergrund aus dunklen Felsen und Schneeflecken, weshalb bisher kaum ein Mensch sie zu Gesicht bekommen hatte und die Bergbewohner sogar glaubten, der Schneeleopard könne sich unsichtbar machen.
    Erneut schoss der Schneeleopard hervor und ließ sich dann wieder auf den Rücken fallen. Anna traute ihren Ohren kaum, als er zu schnurren begann. Seine vertrauensvolle Haltung schien sie aufzufordern: Kraul mich!
    Kim lachte leise. »Ich weiß, was du denkst«, sagte er. »Nicht neidisch sein, ich hab’s schon gemacht, allerdings war er da noch eine halbe Portion. Jetzt würde ich meine Finger nicht mehr durchs Gitter stecken.«
    »Ich auch nicht, obwohl er wirklich so aussieht, als hätte er nichts dagegen. Er hat das schönste Fell, das ich je gesehen habe.«
    »Stimmt. Aber wie üblich ist dieser schicke Mantel auch sein Fluch. Immer wieder tauchen Felle von gewilderten Tieren auf.«
    Anna schüttelte den Kopf. »Wer kann nur solch ein Wunder umbringen?«
    »Viel zu viele, doch ihre Motive sind unterschiedlich. Manchmal sind es arme Bergbewohner, denen der Schneeleopard die Pferde, Yaks, Ziegen und Schafe reißt und dadurch ihre Lebensgrundlage vernichtet. Das ist zwar schlimm, aber auch verständlich. Es gibt viele Projekte, die es sich zum Ziel gesetzt haben, den Dorfbewohnern zu erklären, wie wichtig auch der Schneeleopard ist, um ihre Umwelt zu erhalten, aber sie fruchten nur langsam. Richtig gemein wird es, wenn professionelle Wilderer die Tiere vergiften, um Pelze für die Modebranche und Tierteile für Chinesen mit Erektionsstörungen zu erbeuten.«
    »Ekelhaft.«
    Lange Zeit hockten sie schweigend vor dem Käfig. Auch der Schneeleopard, seines Spiels müde geworden, hatte sich in der Nähe der beiden lang ausgestreckt und blinzelte

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