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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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sagten, sie sei vom Palazzafelsen hinuntergestoßen worden und ihr im Fall von den Lärchen zerfetzter Körper in die Foiben von Lavestra gestürzt. Und nochmals andere sagten, die Schnitter hätten sie nach dem Erschlagen in der Höhle vergraben, aber das ist nur schwer zu glauben, denn dann hätte man einfach nach ihr zu graben brauchen und sie so gefunden. Jedenfalls tauchte sie nicht mehr auf, und ab diesem Tag benutzten die Schnitter die Höhle zum Schlafen und als Unterschlupf vor Gewitter, ohne irgendetwas dafür zahlen zu müssen.
    Aber die Alte war überhaupt nicht verschwunden. Körperlich ja, aber nicht mit dem Geist, denn diese elenden Miststücke verschwinden nie, als böser Geist treiben sie weiter ihr Unwesen auf der Erde. Und so erzählten sich die Schnitter, dass immer, wenn sie abends in der Höhle am Feuer saßen, ihre Schattengestalt an der Wand erschien. Da war sie, direkt vor ihnen, und verfluchte sie und schlug das Kreuz, damit sie zur Hölle fahren sollten. Doch die Schnitter schreckte das nicht weiter, sie lachten eher darüber, weil der Schatten zwar die Arme bewegte, aber dabei weder Geld noch Essbares von ihnen verlangte, um in der Höhle nächtigen zu können. Aber im Dorf wollte man nicht so recht daran glauben, dass mit dem Feuer zugleich auch der Schatten Melissas erschien. So kam eines Abends Pilo dal Crist und zog mit einem Kohlestück die Silhouette der Alten nach, als diese wieder auf der Steinwand erschien, um alle zu verfluchen. Als es dann Tag wurde und das Feuer erloschen, war sie tatsächlich da, perfekt in ihrem hässlichen Profil gezeichnet, und schaute sie an. Und jede Nacht erschien sie immer wieder am selben Platz, genau innerhalb der Linien der von Pilo dal Crist angefertigten Kohlezeichnung. Nicht einen Millimeter trat sie dabei aus ihren Umrissen heraus, wenn sie alle verfluchte. Felice Corona, der den Wurmkäse aß, hätte die Silhouette am liebsten weggewischt, denn sie jagte ihm Angst ein, aber die anderen sagten Nein, sie soll an ihrem Platz bleiben, denn sie wollten sie immer im Blick haben, wenn sie sich vor Wut hin und her wand wie der Ast einer Esche, den man festbindet.
    Die Schnitter glaubten, sie könnten ihre Scherze mit der verschwundenen Herrin der Höhle treiben, aber ihr Fluch über ihre vermeintlichen Mörder sollte bald Wirklichkeit werden.
    So stürzte Pilo dal Crist vom Palazza-Felsvorsprung in den Abgrund, während er am Rand das Gras mähte. Wer ihn stürzen sah, erzählte, dass er mit einer seiner eisenbeschlagenen Galoschen auf einem Stein im Gras ausgerutscht war. Kein Wort war da von ihm zu hören, nicht einmal ein Schrei, als er in die Tiefe stürzte.
    Und dabei hätte er während der zweitausend Meter Flug hinunter genug Zeit zum Schreien gehabt. Sie suchten nach ihm, aber konnten ihn nicht mehr finden, er war wohl von den Felsen zerfetzt und seine Überreste von Tieren und Raben gefressen worden. Nur einen nackten fleischlosen Beinknochen fanden sie noch, den sie gleich dort unten begruben, sonst war ja nichts mehr übrig von ihm.
    Jacon de Arcangelo wurde von einer Viper in den Fuß gebissen, ausgerechnet ganz in der Nähe der Höhle. Wenn er sofort zum Dorf hinabgestiegen wäre, hätte man ihn vielleicht noch retten können, aber er wollte dort oben bleiben. Er schlug die Viper mit dem Sensenrücken tot und fuhr seelenruhig fort, das Gras zu mähen. Bis zum Abend war sein Bein blau wie eine Distelblüte und so dick wie eine Lärche angeschwollen. Dann fing er an, grüne Galle zu kotzen, wie die Hunde, wenn sie Gras fressen. Er sagte hässliche Dinge und Schweinereien, die er als gesunder Mensch nie ausgesprochen hätte, auch fantasierte er, Melissa würde ihn an den Füßen in die Hölle ziehen. Da oben gab es kein Wasser, unter das man ihn hätte stellen können, wie ich es mit Raggio im Bosconero getan hatte. Das einzige Wasser dort oben ist die Cogarìaquelle, ein dünner Faden Wasser, der nur ganz langsam aus dem Gestein austritt, gerade genug, damit man ein wenig trinken kann. Jacon starb kurz vor Morgendämmerung. Er war aufgedunsen wie ein Blätterhaufen und schwarz wie sein Bein, die Augen traten ihm aus den Höhlen. Vier Schnitter luden ihn auf einen Heuschlitten, banden ihn fest, damit er nicht herunterrutschte, und brachten ihn zur Beerdigung ins Dorf.
    Acht Tage später war Piare Stort an der Reihe, der so hieß, weil er krumm war, nach vorn gekrümmt durch den Stoß eines Baumstammes in die Wirbelsäule. Darauf musste er zwei

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