Im Tal des Vajont
Dann ging ich weiter, aber nicht weit. Denn wenig oberhalb des Schauplatzes blieb ich hinter einem Busch stehen, und mit ihrem Anblick vor den Augen befreite ich mich per Hand von meinem Verlangen, das mich nicht mehr loslassen sollte, seitdem ich sie mit ihrem bis über den Hintern hochgerutschten Kleid gesehen hatte.
Ich begriff, dass es von nun an um mich geschehen war, sie hatte mich verhext und hingemacht. Das Verlangen, das sie in mir weckte, war etwas, was ich nicht mehr abschütteln konnte, und ich begann, meinen Freund Raggio mit anderen Augen zu sehen. Ich beneidete ihn darum, eine derart begehrenswerte Frau zu haben, hatte mir selbst aber zugleich geschworen, Raggio niemals das Unrecht anzutun, es mit seiner Frau zu machen. Wäre es nicht so gewesen, ich hätte sie gleich unten am Ufer des Vajont genommen, während sie die Kleider wusch und sich absichtlich das Kleid hochrutschen ließ, um mich heiß zu machen. Jedenfalls beschloss ich, sie mir fernzuhalten, um nicht die Freundschaft mit Raggio zu zerstören.
Im selben Sommer, als ich sie gesehen hatte mit ihrem schönen Hintern unter dem hochgerutschten Kleid, ging ich mit Raggio die Palazzawiesen am Monte Buscada mähen. Die Wiesen waren einen Kilometer lang und fünf breit und lagen allesamt an Steilhängen, das Arbeiten dort war beschwerlich, aber das Gras war so außergewöhnlich gut, dass schon ein Büschel reichte, um eine Kuh zu füttern. Man mähte von morgens bis abends und schlief nachts in der Grotte von Melissa, die unangenehm bockbeinige Herrin dieser Höhle, die sich die Nächtigungen dort teuer bezahlen ließ. Sie hatte sich am Schlaf der Grasmäher reich verdient. In der Regel wollte sie Geld, aber wenn mal einer, und das waren viele, keines hatte, gab sie sich auch mit Naturalien wie Ricotta, Käse oder Salami zufrieden, und der konnte dann in ihrer Herberge nächtigen. So schliefen all die mehr als vierzig Grasmäher vom Monte Buscada in der Grotte von Melissa. Fast zwei Monate lang blieben sie dort oben.
In diesem Sommer war es auch, dass mir an Raggio ein sonderbares Verhalten auffiel, welches ich bis dahin nicht von ihm kannte. Am Abend, wenn er mit dem Mähen fertig war, entleerte er nicht etwa das Wasser aus dem codaro , dem Kumpf, dem hölzernen Wetzsteinbehälter, der, hinten am Rückenende an den Gürtel gehängt, aussieht wie eine Coda, ein Schwanz; nein, er trank das Wasser bis zum letzten Tropfen aus. Ich war wie versteinert bei seinem Anblick und sagte ihm, er solle doch lieber aus der Holzflasche, dem b aril , in der Höhle Melissas trinken. Darauf erwiderte er, dass er nicht aus Durst das Wasser aus dem Kumpf trinke, sondern eher der Kräfte des Grases wegen: »Der Wetzstein schärft die Sense, die das Gras der Wiesen schneidet. Das Gras hinterlässt sein Blut auf der Sense, der Wetzstein nimmt es auf, und so wird das Blut schließlich im Wasser des Kumpfes aufgelöst. So trinkt man mit dem Wasser aus dem Kumpf zugleich das Blut des Grases, und auf diese Weise kann man sich die ganze Kraft der Wiesengräser einverleiben.« Das waren seine Worte, nachdem ich so gestaunt hatte über seine Angewohnheit, abends das Wasser aus dem Kumpf zu trinken. So ganz richtig im Kopf ist er ja nie gewesen, aber jetzt, nachdem er das gesagt hatte, dachte ich tatsächlich, er wäre verrückt geworden.
Die alte Melissa war ein elendes Miststück. Wer nicht zahlte, durfte nicht in ihre Höhle. Selbst wenn du bei Regen davorstandst, musstest du ihr Geld geben oder es ihr fest versprechen. Und wehe dir, wenn du dein Versprechen nicht hieltest. Ich weiß nicht, wie sie es mit ihren einundachtzig Jahren schaffte, dort hoch auf den Monte Buscada zu kommen, aber ich weiß, dass sie noch besser als ein junger Kerl zu Fuß war. Bei den Bauern war sie nicht gerade gut angesehen. Die Schnitter hassten sie, weil sie mit keinem Mitleid hatte. Wie die Schnitter blieb sie vierzig Tage lang in der Grotte, sie hatte ihre feste Ecke, von wo aus sie genau darauf achtete, dass keiner der Gäste ihrer Herberge sich einfach aus dem Staub machte. Und wie ein Rabe in seinem Nest schlief sie in ihren Kleidern in einer Mulde mit Heu, wusch sich nie, pinkelte im Stehen und stank derart nach Pisse, dass ihr keiner zu nahe kommen wollte.
Eines Tages war sie verschwunden und ward nie wieder gesehen. Niemand wusste, wo sie geendet war, mit Ausnahme der Schnitter. Die einen meinten, dass man sie erschlagen und in der Höhle verbrannt hätte. Andere Stimmen wiederum
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