Im Tal des Vajont
Jahre lang das Bett hüten, ohne sich bewegen zu können, und als er wieder gesund war und aufstehen konnte, war klar, dass er für immer krumm bleiben würde wie eine alte Hagebuche. Er war sechzehn Jahre alt, als das passierte. Jetzt war er fünfundvierzig. Der Fluch der Alten traf ihn durch einen anderen Schnitter. Der nämlich stach ihn aus Versehen mit der Sensenspitze in die obere Innenseite seines Oberschenkels. Dabei wurde wahrscheinlich eine Schlagader getroffen, denn das Blut kam so herausgeschossen wie der Wildbach Vajont aus dem Buco dei Govoi. Sie versuchten noch das Blut zu stoppen, aber da war nichts mehr zu machen. Wie aus einem Springbrunnen schoss es heraus. Eine Frau pflückte noch in aller Eile einige Stengel Schafgarbenkraut taj , das Wunderkraut, das Blutungen stoppt und Wunden verschließt wie mit Nadel und Faden zugenäht, aber auch das konnte die Blutfontäne nicht stoppen, die aus dem Bein von Piare Stort herausschoss. Da half auch kein ganzes Bündel des Krautes. So zogen sie ihn in die Höhle von Melissa und legten ihn auf eine Decke. Nach und nach wurden Gesicht und Arme immer weißer, weiß wie die Steine, die oben vom Gipfel der Palazza herabschauen. Ohne einen Tropfen Blut im Körper hauchte er schließlich sein Leben aus, während er noch zur Höhlenwölbung hochschaute, wo, wie er kurz vorher noch mit dünnem Stimmchen flüsterte, ihm die Alte erschienen sei und ihm von dort oben aus ihren auseinanderstehenden Beinen ins Gesicht gepinkelt habe.
Auch ihn brachte man dann mit dem Schlitten ins Dorf hinunter.
Den vierten Mörder Melissas traf der Fluch in Form einer Himmelsstrafe.
Toni Corona della Val Martin, der Bruder von Santo, war gerade auf halber Höhe des Palazzaberges beim Grasmähen, in einem Gebiet, das man auch Peronèi nennt, was so viel heißt wie voll von peròns , also Steinen. Vom Monte Duranno her näherte sich ein Gewitter, aber Della Val Martin wollte die Wiese noch fertigmähen. Die anderen Schnitter hatten bereits in der Höhle von Melissa Schutz gesucht und riefen ihm zu, er solle sich doch auch endlich her bewegen. Aber Toni beachtete sie nicht und mähte weiter. Plötzlich zischte ein Blitzstrahl, gelb wie die Augen des sberegùal , der Schleiereule, mitten in die Peronèiwiese hinein. Sie konnten sehen, wie Toni della Val Martin sich in einem Feuerball wie eine Feder mit dem Wind in die Luft erhob und wieder zurück auf das frisch gemähte Gras fiel. Sie warteten noch das Ende des Gewitters ab, bevor sie nach ihrem Freund schauten. Er lag mit dem Gesicht im Gras und sah aus wie ein Gespenst. Er war völlig verbrutzelt, schwarz und verkrustet wie ein verkohlter Lärchenbaum, keine Hosen, kein Hemd mehr, nackt. Die Augen waren ihm herausgetreten, weiß und blutrot. Der Blitz hatte ihm alles vom Leib gerissen, die ganze Wiese zerfurcht und im Umkreis von zehn Metern alles zerfetzt. Einzig erkennbar war nur noch die halb geschmolzene Klinge der Sense.
So machten die Schnitter ihre dritte Fahrt mit dem Heuschlitten, um die Überreste von Toni Corona della Val Martin hinunter ins Dorf zu befördern. Felice Corona sagte dazu: »Jetzt sind es vier. Warten wir ab, ob es noch weitere Tote gibt, dann wissen wir, wer alles die Alte umgebracht hat.« Aber es kam keiner dazu, und so sprach Felice Corona nur mehr von vier Schuldigen, aber viele wollten nicht an den Fluch glauben und sagten, es seien alles nur unglückliche Zufälle gewesen.
Für die Heuarbeiten wie das Zusammenrechen des Heus nahmen die Schnitter Frauen mit auf den Palazza, weil die Männer nur für das Mähen zuständig waren. Einige unter den Frauen waren schon im neunten Monat schwanger, und es geschah mehr als einmal, dass welche mitten im Feld ihre Kinder gebaren. Ich erinnere mich noch an Rosina, die an einem späten Augusttag ihr Kind quasi auf dem Gipfel des Palazza bekam. Sie brachten sie samt Kind im Arm mit dem Schlitten ins Dorf, aber eigentlich wollte sie lieber zu Fuß gehen, sie fühle sich ja gar nicht so schlecht. Sie hieß das Kind Cielo, Himmel, weil es unter freiem Himmel geboren wurde. Der Familienname war Filippin und der Beiname de Porta. Cielo Filippin de Porta wurde in der Höhe geboren, wie die Adler.
Es war nicht einfach, das Heu vom Palazza hinunter nach Erto zu bekommen. Man brauchte anderthalb Stunden, um die Heubündel auf der Schulter über die Berge Buscada, Palazza und einen Abschnitt des Borgà bis zum Bergeinschnitt des Scalèt zu tragen. Am Scalèt angelangt, wo sich
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