Im Tal des Vajont
nämlich nicht nur zwei, sondern die ganze Prozession in der Lawine vom Pradòn umgekommen. So begannen sie auch dieser Madonna eine Kerze zu bringen, aber erst nachdem die Lawine schon vom Pradòn abgegangen war.
So ist das bei uns, jedes Mal, wenn ein Unglück geschieht, errichtet man ein Marterl mit einer Madonnenfigur oder dem heiligen Antonius darinnen, in der Überzeugung, dass ohne sie das Unglück nur noch größer gewesen wäre. Niemals stellt man den heiligen Herrn da hinein, den findet man nur in der Kirche oder ans Kreuz genagelt auf den Kreuzgängen der Bittprozessionen. Man nimmt keine Darstellung des heiligen Herrn, weil alle wissen, dass der Herr es ist, der uns der Madonna, dem heiligen Antonius und den anderen Heiligen anempfiehlt. Und es sind die Heiligen, die hier oben kommandieren. Sie sind es, die Gott vorausschickt, damit sie Gutes tun. Und wenn manchmal jemand sterben muss, dann nicht etwa, weil der Herr Schlechtes will oder die Heiligen nicht auf ihn hören, sondern damit die Übrigen sich wieder bessern. Aber immer kann man sich nicht bessern, weil oft der Teufel dazwischentritt, um uns zum Gegenteil zu verleiten, uns schnell unsere Toten und das Geschehene vergessen zu machen. So ist das Leben, eine einzige Buße, bei der wir selbst Tag für Tag vergessen werden, bis wir dann plötzlich sterben, ohne dass uns Zeit bliebe, darüber nachzudenken, was wir überhaupt gemacht haben und was überhaupt in unserem Leben passiert ist.
Ich traf mich weiter mit ihr so heimlich wie irgend möglich, wobei ich keine Ruhe mehr fand, seitdem Raggio sie aus meinem Stall hatte herauskommen sehen, auch redete sie immer weniger, und wenn sie etwas sagte, dann immer nur, dass ich ihren Mann umbringen und auf den Mist werfen müsse.
Als ich eines Tages mit Raggio in der Osteria von Pilin mit einer Gruppe Waldarbeitern zusammensaß, kam auch sie herein und setzte sich zu uns. Einer vom Cassanatal fragte sie spaßeshalber, ob sie ein Glas Wein mittrinken wolle, worauf sie, ohne zu antworten, gleich eins zur Hand nahm und es hinunterschüttete, als wäre es Wasser. Darauf folgte dann noch eins und noch eins, und alle leerte sie in einem Zug aus. Es reicht, sagte schließlich Raggio, und sie hörte auf. Aber nach kurzer Zeit wurde sie auf einmal feuerrot im Gesicht und lief hinaus, um sich über der Jauchegrube von Marina zu erbrechen. Jedes Mal, wenn sie etwas Wein trinke, müsse sie sich übergeben, sagte sie, als sie wieder zurückkam. Da fragte sie einer der Waldarbeiter, warum sie dann überhaupt Wein trinke, worauf sie antwortete: »Damit ich kotzen kann.«
Auch dieser schneereiche Winter verstrich.
Eines Morgens lud ich mir einen Sack Hirse auf den Rücken und stieg zum Vajont hinab, um sie in der Mühle von Bati zu Mehl mahlen zu lassen. Unten in der Mühle traf ich auch auf Raggio, der ganz eifrig mit dem alten Bati schwatzte, und fragte ihn, wieso auch er zur Mühle gekommen sei. Er müsse zehn Kilo Weizen abholen, gab er zur Antwort, und wenn ich einverstanden wäre, würde er auf mich warten, um mit mir gemeinsam wieder heimzukehren. Ich sagte, dass es schon einige Stunden dauern würde, bis Bati meine Hirse gemahlen hätte, und so lange solle er doch nicht auf mich warten. Aber Raggio wollte unbedingt auf mich warten, und um nicht untätig herumzustehen, half er dem alten Bati beim Mahlen. So ging ich unterdessen zu Gioanin de Scàndol, der wenig weiter ein immer noch von einem Wasserrad angetriebenes Sägewerk besaß, gespeist vom Wasser des Vajont. Scàndol sollte mir geriffelte Tafelbretter anfertigen, mit denen beim Käsemachen noch besser die überflüssige Käsemilch aus den Laiben gepresst werden konnte. Ich brauchte fünf Tafeln, aber er hatte mir nur drei zurechtgesägt. Zum Spaß sagte ich ihm, er hätte wohl nicht besonders viel Lust zu arbeiten, worauf er mir ganz ernst erwiderte, dass er nur so viel arbeite, wie es für eine Mahlzeit am Tag und einen Liter Wein erforderlich sei. Alles andere war ihm gleichgültig, die anderen könnten ja arbeiten, wenn sie mehr wollten. Wie etwa sein Kollege aus Spesse, der den ganzen Tag und selbst nachts noch einen Baumstamm nach dem anderen zersägte. »Mir geht’s nicht schlecht dabei«, sagte der alte Scàndol, »ich brauche nicht viel Arbeit, ich bin zufrieden, wenn ich den Geruch des frisch gesägten Holzes rieche, den Harzgeruch der Pinien und Lärchen.« Gioanin hatte auf seiner Wiese mehrere Stapel von Baumstämmen liegen, die seit Monaten
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