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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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schliefen in der Holzhütte, wo der arme Gustin einige Jahre zuvor in der Weihnachtsnacht den Teufel gesehen hatte. Um abends schneller wieder hinunter- und heimzukommen, hängten wir uns mit einer Zugrolle an das Kabel der Seilbahn. Eines Tages, es war gegen Nachmittag, ließ sich Raggio schon vor mir am Seil hinuntergleiten. Als ich ihm so zusah, wie er gleich einer Krähe bergab flog und nur ab und zu die Fahrt mit einer Nussholzgabel abbremste, dachte ich, wie leicht es wäre, das Seil einfach mit der Axt durchzuhauen und ihn hinab auf das Kiesbett des Vajont stürzen zu lassen. Oder ihm eine Ladung Holz hinterherzuschicken, die ihn zertrümmern würde. Aber solche Gedanken waren nur von kurzer Dauer, niemals hätte ich meinem Freund etwas zuleide tun können, auch wenn seine Frau von mir wollte, wie sie immer wiederholte, dass ich ihn so schnell wie möglich aus dem Verkehr zog.

In diesem Dezember fiel so viel Schnee, dass man die Straßen nicht mehr begehen konnte. Tag für Tag, ununterbrochen, nur ganz selten hörte es einmal zu schneien auf. Wenn dann gar nichts mehr ging und man sich nicht mehr bewegen konnte, wurde der Räumtrupp von Piovech gerufen. Mehr als achtzig Männer machten sich dann auf, schaufelten die Wege im Dorf frei und räumten den Schnee von den Dächern, damit die unter der Last nicht einstürzten. Doch als sie so auch das Dach des Hauses von Toldo Filippin Zuano freiräumten, brachen plötzlich die Dachbalken, und fünf Schneeschaufler endeten eine Etage tiefer in der Küche. Einer von ihnen war auf der Stelle tot. Das war Micèl Corona, kaum achtunddreißig Jahre alt. Er wurde drei Tage später begraben, so lange brauchten wir, um die Zufahrtsstraße zum Friedhof freizuschaufeln und das Grab für ihn auszuheben. Und dann musste das Haus von Toldo Zuano eiligst wieder gedeckt werden, wozu man hier und da aus den Ställen die nötigen Balken heranschaffte, um einen neuen Dachstuhl hochzuziehen. Dann musste eine neue Zimmerdecke eingezogen werden, denn auch sie war vom einstürzenden Dach, vom Schnee und den Ziegeln durchbrochen worden. Das alles bedeutete eine Extrawoche Arbeit, und zum Glück hörte es zwischendurch zu schneien auf, sonst hätten wir das Haus gar nicht wieder herrichten können, denn wenn nicht gleich die anderen Dächer geräumt wurden, drohten die auch einzubrechen. Nach dem unglückseligen Einsturz des Hausdaches legte die Mannschaft von Piovech ein Gelöbnis ab, das innerhalb weniger Jahre das gesamte Dorf mit einbezog. Und so errichteten sie in der Kurve von Costa über dem Abgrund von Filomena ein Marterl, in das sie eine Madonnenfigur aus Ahornholz hineinstellten, die noch weißer als Schnee war. Genio Damian Sgùima hatte sie geschnitzt, er war ein guter Holzschnitzer, aber schnitzte für gewöhnlich nur die Heiligenfigur des heiligen Antonius mit Kind. Nie hatte er bisher Madonnenfiguren gemacht, sodass die jetzige, die aus seiner Hand hervorgegangen war, eher ein Mann als eine Frau zu sein schien. Eine Madonna also, die wie der heilige Antonius aussah. Und der Trupp von Piovech legte fest, dass man bei jedem starken Schneefall zu Ehren dieser kleinen Madonna dort eine Kerze in der Kurve von Costa über der Filomenaschlucht aufstellen musste. Deshalb wurde sie auch die Madonna des hohen Schnees genannt, weil eine Prozession zu ihr nur stattfinden durfte, wenn der Schnee ungefähr einen Meter hoch lag und es dauerhaft schneite. So sah man dann bei dichtem Schneefall die Leute in ihren schweren Winterumhängen durch das Zemolatal zum Costabergmassiv pilgern, um unserer Madonna eine Kerze zu bringen, und das war ein ausnehmend schöner Anblick.
    Bis eines Tages, als die Leute durch ein furchterregendes Schneegestöber von der Madonna heimkehrten, sich vom Pradòn eine Lawine löste und die letzten beiden Männer der Prozession in den Tod riss. Beide stammten aus der Ortschaft Spesse, und man fand sie im Frühjahr, als die Kuckucke riefen, auf dem Kiesbett des Wildbachs Vail, in der Nähe der Stelle, wo der Vajont eine Biegung macht und mit dem Vail zusammenfließt. Daraufhin errichtete die Mannschaft von Piovech ein weiteres Marterl, gut anderthalb Meter hoch und wieder mit einer Madonnenfigur von Genio Damian Sgùima, und wieder schaute sie einem Mann ähnlich.
    Diese nun wurde die Madonna der Lawinen genannt, denn schließlich waren die mit heiler Haut Davongekommenen ja von ihr beschützt worden, wie sie sagten, und dafür musste man ihr danken, sonst wären

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