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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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dann zum Trocknen unter dem Rauchfang auf, nachdem ich sie vorher in einen mit Tabak vollgestopften Beutel aus Katzenfell gesteckt hatte, was ihre wahnsinnig machende Wirkung noch zusätzlich verstärkte.
    Die getrockneten Beeren zerstieß ich im Salzmörser zu einem dunkelvioletten Pulver, das ungefähr die Menge von einem halben Esslöffel ergab. Dann wickelte ich das Pulver in einen Tuchfetzen und versteckte es in dem Loch unter dem Standbild des heiligen Antonius, das dort hineingebohrt war, damit das Holz sich nicht verzog.
    Es war noch September, und man mähte das Grummet, den zweiten Schnitt des Heus noch vor dem Herbst, aber es war bereits kalt, und die Bäume begannen schon ihre Farbe zu wechseln, und bald würde sie der Eiswind von den Bergen ganz entlauben.
    Ich und Raggio mussten das Grummet auf den tief liegenden Spianadawiesen mähen, die fast bis unten zum Vajont herunterreichen. Das Gras hält sich dort viel länger als oben am Palazza. Da wir uns auch hierbei, damit es schneller ging, wie immer gegenseitig halfen, dachte ich, dies sei jetzt die einfachste und letzte Gelegenheit, um Raggio die Tollkirsche zu verabreichen. Also nahm ich das Pulver und steckte es in die hintere Hosentasche. Mein Plan war, es in seinen Kumpf zu schütten, sodass er mit dem Wasser gleichzeitig auch die Tollkirsche trinken würde, denn ich wusste ja, dass er in den Mähpausen immer zu seinem Kumpf griff, um mit dem Wasser zugleich in den Genuss der Kräfte des Grases zu kommen. Ich brauchte ihm also nur das Tollkirschenpulver hineinzuschütten, und Raggio wäre innerhalb einer oder höchstens zwei Nächten wahnsinnig geworden.
    Den ganzen Tag hatten wir nun schon gemäht und waren fast auch mit der letzten Wiese fertig. Ich wartete, bis Raggio sich zum Ausruhen an den Wiesenrand setzte, und setzte mich zu ihm. Während der Mähpausen löst man sich für gewöhnlich den Kumpf vom Gürtel hinten am Rücken und steckt ihn, damit das Wasser nicht ausläuft, mit der Spitze am unteren Ende vor sich in die Wiese. Und so hatte es auch Raggio gerade getan. Ich erinnere mich, dass in dem Kumpf ein Teufelsgesicht eingeschnitzt war, das von Genio Damian Sgùima stammte. Als ich mich neben ihn setzte, hielt ich das Pulver schon in der Hand bereit, und während ich zu ihm sagte, Raggio, für heute soll es genug sein, und ihm dabei mit einer Hand auf die Schulter schlug, schüttete ich mit der anderen die Tollkirsche zum Wasser in seinem Kumpf. Nach unserer Pause mähte ich noch ein wenig weiter und hielt ihn dabei im Auge. Raggio schärfte noch einmal seine Sense, mähte noch den letzten Winkel Grummetgras auf der Spianada und sagte schließlich basta. Darauf hängte er die Sense an den nächsten Apfelbaum, nahm seinen Kumpf vom Gürtel hinten am Rücken, zog den Wetzstein heraus, setzte sich den Kumpf an den Mund und trank in vier Zügen das ganze Wasser aus, was ungefähr ein Viertelliter war.
    Dabei gab er kein Zeichen von sich, dass er irgendetwas bemerkt hätte, weder mit den Augen noch mit dem Mund. Dann wischte er sich noch die Lippen mit dem Hemdsärmel ab und sagte: »Lass uns heimgehen, für heute haben wir mehr als genug getan.«
    So stiegen wir, ich hinter ihm, langsam wieder zum Dorf hinauf. Kurz vor dem Dorf trennten sich unsere Wege, und jeder ging zu sich nach Haus. Nun war es getan, und es galt nur noch ein wenig abzuwarten.

Ich weiß nicht, ob es Raggio in der Nacht schlecht ging. Sie sagte mir Nein, aber dass er nach zwanzig Stunden unaufhörlich zu reden anfing. Auch ich konnte am nächsten Tag in der Molkerei keine besonderen Auffälligkeiten an ihm bemerken, nur dass er nun gar nichts mehr sagte und mit großen Augen in die Ferne sah, als sähe er dort schreckliche Dinge, die ihm Angst einjagten. Ich versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, um zu sehen, ob er noch klar denken konnte, und ich muss sagen, dass er noch ziemlich richtige Antworten gab, aber doch anders als sonst. Zugleich waren allerdings seine Augen stark vergrößert und blickten irgendwohin nach draußen, wo ein anderer nichts gesehen hätte, er aber wohl Dinge sah, die ihn erschrecken mussten.
    Aber bis dahin war das noch nichts Außergewöhnliches. Erst am zweiten Tag setzte es richtig aus bei Raggio, und es machte mir wirklich Angst, was er nun alles sagte, sah und zu tun anfing. Es brauchte etwas Zeit, bis die Tollkirsche ihre Wirkung zeigte, aber am zweiten Tag drehte Raggio durch wie ein Pferd, das vor einem Blitz scheut, oder ein

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