Im Tal des Vajont
allein ich war der Grund dieses Unheils. Ich hätte ihm keine Tollkirschen verabreichen dürfen, doch andererseits hatte ich ihm so vielleicht das Leben gerettet, denn seine Frau hätte ihn früher oder später gewiss mit den Knollenblätterpilzen umgebracht.
Im selben Winter entdeckte mein Freund Raggio für sich eine Leidenschaft, der er bisher noch nie nachgegangen war und von der er mir auch noch nie erzählt hatte: Er ging sozusagen in die Holzbildhauerschule zu Genio Damian Sgùima, der ausschließlich Bildnisse des heiligen Antonius schnitzte. Genio war froh darüber, ihm das bisschen, was er wusste, zu zeigen, bekam zugleich aber auch ein wenig Angst, wenn Raggios Augen anschwollen und er seine Visionen hatte. In solchen Momenten legte Genio dann seine Schnitzwerkzeuge zur Seite, weil man nie genau wissen konnte, wo Raggio diesmal den Teufel sehen würde.
Eines Tages fragte ich Sgùima, ob er wüsste, warum Raggio die Bildhauerei erlernen wolle. Sgùima wusste es, weil Raggio es ihm gleich zu Anfang gesagt hatte. Er wolle den Beruf ordentlich erlernen, damit er jene Frau schnitzen könne, die ihm immer wieder einmal vor dem Käsekessel oder auch anderswo erschien und zu ihm sprach. Er wollte also die Madonna abbilden, aber so, wie er sie sah, mit ebendiesem Gesicht, diesem Gewand und Holzgaloschen, weil er sie mit Frauenschuhen an den Füßen sah, welche ja bei uns zugleich die Blumen sind, die man auch Scarpette della Madonna, Frauenschuh, nennt.
Damian Sgùima brachte ihm bei, wie man die Körperformen nachbildet, aber das Gesicht der Madonna wollte Genio nicht recht gelingen, weil es immer nur demjenigen des heiligen Antonius ähnelte, das einzige Gesicht, das er in der Lage war nachzubilden. Da fragte Raggio, ob er selbst sich an dem Gesicht der Madonna versuchen dürfe, worauf Genio mit: »Ja bitte, versuch’s« antwortete. Raggio machte sich gleich an die Arbeit, und Sgùima erzählte mir später voller Bewunderung, dass es war, als stünde plötzlich jemand vor meinem Freund und gäbe ihm Anweisungen, wo er zu schnitzen und wie er die Werkzeuge zu führen habe. Nach weniger als einem Tag hatte er eine so schöne Madonna geschnitzt, dass sie ganz lebendig schien und dazu mit einem leichten Lächeln im Gesicht. So beschloss ich, sie mir anzusehen. Und dann konnte ich kaum hinschauen, so schön und geheimnisvoll war sie, und für einen Augenblick war mir sogar, als hätte sie ihre Augen bewegt. Da fragte ich Raggio, wer ihn denn im Führen der Werkzeuge unterrichtet hätte, worauf er mir kindereinfach zurückgab, dass sie es war, und dabei auf die eben fertiggestellte Madonna zeigte.
Genio Damian Sgùima erzählte mir, dass Raggio immer so arbeite, wie auf Anweisung dieser Frau, die nur er sehen konnte. Ab diesem Tag schnitzte Raggio nur Madonnen, die lebend echt wirkten. Dazu benutzte er Kirschholz, das fleischfarben war und nicht rissig wurde, denn er schnitt es immer bei abnehmendem Mond, wenn die Bäume weich und reif wurden, aber auch weil Kirschbaumholz sehr wenig reißt.
Die Madonnen meines Freundes waren von leicht dunkler Farbe, gebräunt von den Sonnenstrahlen, die sich allmorgendlich von den Cerentónbergen hinunter über unser Tal ergossen.
Seitdem er mit dem Madonnenschnitzen angefangen hatte, ersetzte er nach und nach die von Genio Damian Sgùima gefertigten Madonnen der Bildstöcke, die eher wie Männer aussahen, weil ihre Gesichter mehr nach dem des heiligen Antonius denn nach der Madonna geraten waren. Wie schön unsere Kapellen doch nun mit diesen Madonnen geworden waren! Wie Häuser, in denen die Mütter auf ihre weit entfernten Kinder warten. Alle Dorfbewohner gingen jetzt zu Raggio, um sich eine Madonna schnitzen zu lassen, und jeder einzelnen Madonna gab mein Freund den Namen der Familie, die fortan von ihr beschützt wurde. Madonna di Lodio, Madonna dei Govoi, Madonna dei Ruava, dei Menin, dei Frassen, dei Alba, dei Pont und so weiter bei jeder Familie im Dorf. Die alten Madonnen von Genio Sgùima dagegen wurden nicht verbrannt, sondern mit ins Haus genommen und neben den Kamin gestellt, als Madonna, aber auch als heiliger Antonius, weil ihre Gesichter zugleich etwas von einem Mann und einer Frau hatten.
Doch eines Tages hörte er damit auf, Madonnen zu schnitzen, denn er meinte inzwischen ein König geworden zu sein, und Könige machten keine Madonnen.
Sich für einen König zu halten war dabei nur eine weitere seiner vielen Wahnvorstellungen. Zuerst war er der König von
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