Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
Geruch von Freiheit strömte durch das Fenster herein, und sang sein unbeugsames Lied.
Der Wächter fasste ihn unter dem Arm und zog ihn beinahe sanft weiter. Der Gang machte wieder einen Knick, und dann blieb ihm der Atem stehen, als hätte ihm das Schicksal die Faust direkt in den Magen geschlagen. Vertraute Gesichter verzerrten sich entsetzt bei seinem Anblick.
Er ahnte, wie schrecklich er in den Augen seiner Freunde aussehen musste. Verdreckt, die Kleidung zerrissen und die Haut rot und wund, dort wo das Jucken der Flohbisse unerträglich geworden war. Dazu noch die frische, blutende Platzwunde auf der Stirn.
» Was… was bedeutet das? « , stotterte Liam. Vage Hoffnung waberte wie ein Trugbild durch seinen Geist. Sein Freund Kenneth lächelte aufmunternd, und dann erklangen die lang ersehnten Worte.
» Du bist frei! Wir haben es geschafft. «
Ein heiserer Schrei stieg aus Liams Kehle, dann brach er zusammen.
Die Kutsche rumpelte durch die spätherbstlichen Gassen. Es duftete nach Steinen, die von der Sonne erwärmt wurden. Sogar der Moder der Themse und der Gestank der verdreckten Gassen brachten angenehme Erinnerungen. So roch London, so roch Freiheit.
In der Kutsche herrschte schummriges Halbdunkel. Alle Vorhänge waren zugezogen, und so gerne Liam einen Blick nach draußen geworfen hätte, so sehr verstand er auch Kenneths Wunsch, keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Der junge Adelige riskierte ohnehin schon genug, um Liam zu helfen. Geld war nur das geringste Problem. Seine Reputation als Offizier stand auf dem Spiel.
Das Glockenspiel der All Souls Church läutete zur vollen Stunde. Es war eine vertraute Melodie, die seinem Herzen einen Stich versetzte. Hier hatte Johanna Thomas Waters geheiratet. Die Kirche lag im Stadtteil Marylebone an der Regent Street und damit nicht auf Liams Heimweg.
» Wo bringst du mich hin, Kenneth? «
Die Schultern seines Gegenübers versteiften sich kurz, und Kenneth strich sich mit einer hastigen Bewegung eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. Mitgefühl lag in seinem Blick.
» Du kannst nicht nach Hause, Liam, nicht in deinem Zustand. Deine Mutter… «
» Ja, ich weiß. « Sie hatten ihm frische Kleidung mitgebracht, die ihm um den mageren Leib schlackerte. Seine Hände zitterten allein schon von der Anstrengung, sich in der Kutsche aufrecht zu halten. Am liebsten hätte er sich wie in der Zelle zusammengerollt. Nein, so durfte ihn seine Mutter nicht sehen. Nicht nach dem Tod ihres geliebten Ehemanns und Duncans gewaltsamen Ende. Es hätte ihr gänzlich das Herz gebrochen.
» Du kommst mit zu mir. Ich habe ohnehin für dich gebürgt, und Platz habe ich genug. «
» Kenneth, das brauchst du nicht… Eine Herberge… «
» Lass gut sein. Ich weiß, ich kann auf deine Ehre vertrauen. Du würdest nichts tun, was mich meine Bürgschaft bereuen ließe, abgesehen davon würdest du mich auch nicht im Kerker verrotten lassen. «
Liam stieß den Atem aus und musterte das vertraute Gesicht seines Gegenübers. Kenneth hatte weiche Züge, die erst durch den dichten Backenbart männlicher wirkten. Auf der linken Seite verbargen die Haare das längliche Feuermal, wegen dem er als Junge oft gehänselt worden war. Kenneth war ein guter Freund. Er war auch der Freund seines Bruders gewesen. Seit vielen Jahren. Gemeinsam hatten sie sich zum ersten Mal betrunken, an den ersten Jagden teilgenommen, und kein anderer als Liam hatte Schmiere gestanden, als Kenneth in den weichen Armen der drallen Küchenmagd der Fitzgeralds zum Mann wurde, wie er selbst ein paar Wochen zuvor. Jener unbeschwerte Sommer auf Edgemoor Heights in Schottlands grünen Hügeln schien Ewigkeiten zurückzuliegen. Nein, es war wie ein anderes Leben. Eines, das für immer Vergangenheit war.
Zwei Stunden später fühlte sich Liam wie ein neuer Mensch. Er hatte ein langes Bad genommen, all den Dreck abgewaschen und den verfilzten Bart abrasiert. Kenneths Haushälterin Beth hatte sich beinahe überschlagen, um ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Sie tischte ihm eine starke Brühe auf, die ihm neue Kraft gab und seinen empfindlichen Magen nach der langen Hungerzeit nicht überforderte.
Seit seiner Ankunft in Kenneths Haus schwebten unausgesprochene Worte wie Geier durch den Raum. Eines wusste Liam von Anfang an: Seine Freilassung war an Bedingungen geknüpft, doch noch hatte Kenneth ihm nicht verraten, an welche. Als es nun an der Tür klopfte, wurde ihm klar, warum. Die Besucher waren wohlvertraut. Zwei
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