Im Taumel der Sehnsucht
Figur.«
»Madam Newcott?« fragte Charity. »Caroline ist tatsächlich der Auffassung, daß ihre Beine zu lang und ihre Brüste zu groß sind, um als hübsch zu gelten.«
»Das habe ich nie gesagt«, protestierte Caroline. »Aber ich denke einfach praktisch. Die langen Beine sind günstig zum Reiten, aber ich kann einfach keinen praktischen Nutzen in einem Zuviel an dieser Stelle sehen.« Statt mit Worten zu erklären, klopfte sie sich aufs Dekollete.
Charity brach in lautes Gelächter aus. »Caimen würde uns ohrfeigen, wenn er uns jetzt hören würde.«
»Das ist wahr«, bestätigte Caroline ihr. Sie blickte in den Spiegel und sagte: »Mein Haar ist viel zu lang, zu schwer und so fürchterlich widerspenstig. Meinst du, ich sollte es abschneiden lassen?«
»Nein!«
»Schon gut«, besänftigte Caroline ihre Cousine. »Dann laufe ich eben wie eine Barbarin herum.«
»Ich könnte es dir ein wenig kürzen, dann ist es wieder nachgewachsen, wenn wir nach Boston zurückfahren.«
Caroline begriff voller Unbehagen, daß sie ihre Cousine in ihren Entschluß einweihen mußte. Ihr Lächeln war verschwunden, als sie den Kopf schüttelte. »Ich bin nicht sicher, daß ich wieder mit nach Boston zurückkehre, Charity.«
Als ihre Cousine den Mund öffnete, um ihr zu widersprechen, schüttelte sie erneut den Kopf. Sie wollte keinesfalls vor Madam Newcott über dieses Thema sprechen, und zum Glück verstand Charity sie sofort.
Doch sobald die Schneiderin gegangen war, griff Charity das Thema wieder auf. »Meinst du nicht, daß deine Entscheidung etwas übereilt ist, Caroline? Wir sind doch erst zwei Wochen hier. Gib dir mehr Zeit. Du mußt gründlich darüber nachdenken. Himmel, unsere Brüder werden Anfälle bekommen, wenn du nicht mit mir nach Hause zurückkehrst.«
»Ich verspreche dir, daß ich nichts überstürzen werde«, antwortete Caroline. »Aber ich weiß schon jetzt, daß ich meinen Vater nicht im Stich lassen kann, Charity. Ich kann es einfach nicht.« Sie seufzte traurig und fügte flüsternd hinzu: »Ich bin hier zu Hause. Hier gehöre ich hin. Zumindest solange mein Vater am Leben ist.«
»Du erzählst mir, du könntest deinen Vater nicht im Stich lassen. Aber ist das nicht genau das, was er mit dir getan hat?« argumentierte Charity. Ihr Gesicht rötete sich - ein untrügliches Anzeichen dafür, daß Zorn in ihr aufstieg. »Vierzehn Jahre lang hat er sich einfach nicht um dich gekümmert. Wie kannst du so etwas vergessen?«
»Ich habe es nicht vergessen«, gab Caroline zurück. »Aber er hatte seinen Grund. Und eines Tages wird er es mir erklären.«
»Ich habe jetzt wirklich keine Lust mit dir zu streiten, Schwester«, sagte Charity. »In wenigen Tagen werden wir zum ersten Mal auf einen Ball gehen. Dein Vater ist wegen uns ganz aufgeregt, und ich möchte seine Begeisterung nicht dämpfen. Versprich mir nur, daß du dich noch nicht festlegst. Ich werde dich erst einmal nicht mehr darauf ansprechen. Sagen wir für. . . für die nächsten zwei Wochen. Dann hast du Zeit genug gehabt, dir alles ganz genau zu überlegen. Oh, Caroline ... du magst die Engländer doch nicht einmal!«
»Ich habe ja noch nicht besonders viele kennengelernt«, warf Caroline ein.
Das Gespräch rief Caroline Mr. Smith in Erinnerung zurück; mit ihm hatte sie eine ähnliche Unterhaltung geführt. Und dann dachte sie wieder an den Mann namens Bradford. Wieso hatte er sie nur so durcheinanderbringen können? Sie ertappte sich immer öfter dabei, daß ihre Gedanken bei ihm weilten, und es schien ihr nicht zu gelingen, ihn aus ihrem Kopf zu verdrängen. Sie fühlte sich in gewisser Hinsicht durch ihn bedroht, und als sie es sich eingestand, tadelte sie sich augenblicklich, viel zu dramatisch zu reagieren. Er war schließlich auch bloß ein Mann!
Der Abend ihres ersten Balles war gekommen. Das Ereignis im Ashford-Haus kennzeichnete den Beginn der Saison, und jede wichtige Persönlichkeit würde erscheinen.
Caroline nahm sich viel Zeit, sich anzuziehen. Ihr widerspenstiges Haar widerstand allen Bemühungen der Zofe, es mit Nadeln und Schleifen zu bändigen, und schließlich gaben sie es auf. Caroline bürstete ihre Locken aus und ließ sie locker über ihre Schultern fallen.
Ihr Kleid hatte die Farbe von violettem Eis und besaß einen runden tiefen Ausschnitt, der mehr als nur ein bißchen von ihren vollen Brüsten sehen ließ. Passende Schuhe und schimmernde weiße Handschuhe rundeten ihre Erscheinung ab, und als Caroline sich
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