Im Taumel der Sehnsucht
nächsten Stunden blieb sie bei ihrem Vater sitzen und lauschte, während er ihr von den vergangenen Jahren erzählte. Irgendwann fiel ihr auf, daß er weit mehr über Englands wachsende Probleme sprach als über sich selbst. Dann erkannte sie plötzlich, was für ein schrecklich einsamer Mann er gewesen war, und ihr Herz tat ihr weh. Mehr als einmal sagte sie sich, daß er seine Einsamkeit selbst gewählt hatte - er hätte sie ja in den letzten vierzehn Jahren an seiner Seite haben können. Dennoch empfand sie in erster Linie nur Mitleid mit ihm.
Er hatte sie damals nicht nur weggeschickt, weil er sich nicht mehr ausreichend um sie hatte kümmern können, wie Charitys Mutter ihr stets erzählt hatte. Es gab noch einen anderen Grund, dessen war sie sich sicher. Mit der Zeit, wenn sie erst einmal sein volles Vertrauen gewonnen hatte, dann würde sie es schon erfahren.
Und in diesem Moment begriff Caroline, wie dumm ihr Versprechen, das sie ihrer Bostoner Familie gemacht hatte, gewesen war. Es war das Versprechen eines Kindes gewesen, eines, das in Wut und Verzweiflung gegeben worden war. Doch nun akzeptierte sie die Tatsachen. Sie mußte ihr Wort brechen. Ihr Platz war an der Seite ihres Vaters. Sie konnte niemals zurück nach Boston gehen.
Ihre Zukunft lag hier.
KAPITEL 4
Caroline verdankte es allein ihrem Sinn für Humor, daß sie die nächsten Tage überstand, ohne sich der Verzweiflung hinzugeben. Dazu kam, daß Charitys Begeisterung sie von allen düsteren Gedanken ablenkte. Ihre Cousine kostete die Aufmerksamkeit, die man ihr widmete, in vollen Zügen aus und freundete sich rasch mit Madam Newcott, einer Schneiderin mit einem geschulten Auge für Stoffe und Schnitte, an. Charity genoß jede Sekunde von dem, was Caroline insgeheim >ihren Leidensweg< nannte.
Der Earl of Braxton hatte es nicht bei einem Kleid bewenden lassen. Er hatte Anweisungen gegeben, daß beide seiner Schützlinge mit einer komplett neuen Garderobe ausgestattet werden sollten.
Für Charity schlug Madam Newcott rosafarbene und blaßgelbe Stoffe vor, die sie hier und da mit Spitze verzierte, um Charitys zierliche Statur zu unterstreichen. Rüschen dagegen untersagte sie Charity streng; sie würden ihre zarte Gestalt nur erdrücken, argumentierte sie.
Caroline mußte sich in Blau, Lavendel und Elfenbein hüllen lassen und bekam ein elfenbeinfarbenes Kleid angepaßt, das für ihren Geschmack viel zu eng und zu tief ausgeschnitten war. Sie fand das Kleid schrecklich unanständig und teilte Charity ihre Meinung mit.
»Mama würde dir eine Stola über die Brust drapieren«, meinte Charity kichernd. »Und Papa dich gar nicht erst aus dem Haus lassen. Onkel wird einen Stock brauchen, um dir die Verehrer vom Leib zu halten, wenn du das in der Öffentlichkeit trägst.«
»Ich schwöre, ich bin so gepikt und gekniffen worden, daß ich eigentlich am ganzen Körper blau und grün sein müßte«, bemerkte Caroline mürrisch.
Madam Newcott, die vor Caroline kniete und an das, was sie als herrliche Kreation bezeichnete, ein letztes Mal Hand anlegte, ignorierte den Kommentar geflissentlich.
»Wann kommt dein Vater zurück?« fragte Charity.
»Morgen«, antwortete Caroline. »Der Marquis wohnt ein ganzes Stück von London entfernt. Vater wird dort übernachten und morgen zurückkommen.«
»Ist der Marquis der ältere Bruder deiner Mutter, oder ist er jünger?« wollte Charity wissen.
»Älter. Ich habe noch einen Onkel, Franklin, und er ist zwei Jahre jünger als meine Mutter jetzt wäre, wenn sie noch lebte ... äh, du verstehst, was ich meine?«
»In etwa«, sagte Charity grinsend. »Warum hat dein Vater dem Marquis nicht einfach eine Nachricht geschickt, daß du wieder in London bist? Dann hätte er sich doch die Fahrt ersparen können.«
»Vater wollte es ihm persönlich mitteilen. Er meinte, er müßte es ihm erklären. . .« Caroline runzelte nachdenklich die Stirn. »Weißt du, daß ich nicht einmal von diesen zwei Onkels wußte, bis Vater von ihnen erzählt hat? Ist es nicht komisch, daß er dem Marquis gegenüber auf einmal so eine Höflichkeit an den Tag legt?«
Charity dachte einen Moment nach und hob dann die Schultern. Für sie war das Thema beendet. »Oh, ich wünschte, ich hätte deine Figur«, jammerte sie, während sie ganz vorsichtig aus ihrem rosafarbenen Tageskleid stieg, um die Nadeln, die den Stoff zusammenhielten, nicht zu lösen.
»Zuwenig ist besser als zuviel«, sagte Caroline. »Du hast eine perfekte
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