Im Tempel des Regengottes
selbst kaum mehr verstand, was er empfunden, was ihn vorangetrieben hatte, seinem eigenen Untergang entgegen. »Mir kommt es vor, als wäre ich aus einem Traum erwacht«, fuhr er fort, »einem Jahrzehnte dauernden Traum: meinem bisherigen Leben. Und auf einmal sehe ich, so klar, als könnte ich es von deinem Gesicht ablesen, Helen, worin mein Irrtum bestand und warum es dennoch gut und schicksalhaft unvermeidlich war, daß ich hierher kam, um all die Schrecknisse der Wildnis, des Krieges und der falschen Prophezeiungen zu durchleben.«
»Und warum, Robert?« fragte Helen und wagte kaum den Blick zu ihm zu heben. »Warum war es gut, daß du hierhergekommen bist?«
Er sah sie mit einer Begeisterung an, die weit über sie beide hinauszureichen schien. »Aus dem gleichen Grund wie bei dir«, rief er aus. »Was anderes wäre dieser Ort hier, Ixt'u'ulchac, als eine Stätte des Anfangs, der Schöpfung, des Anbeginns? Fühlten wir nicht beide, daß wir ganz bis zum Anfang zurückgehen mußten, bis zu den Ursprüngen unseres Lebens und darüber hinaus? Zurück bis zu dem Punkt, da wir auf den falschen Weg geraten waren: da unsere Seele verdüstert, unser Geist zersplittert, unser Ich gehindert wurde, sich zu harmonischer Wohlgestalt aufzufächern wie das Astwerk der heiligen Ceiba?«
Wieder hielt er inne, und diesmal verfing er sich in ihrem Lächeln, das ihm unendlich liebevoll schien, mit einer winzigen Beimischung von Spott. Ihre Hand regte sich in der seinen, wohlig wie ein kleines Tier in seiner Höhle. Er sah Helen an wie zum allerersten Mal, ihr fein geschnittenes Gesicht, ihre anmutige Gestalt, die ihm köstlicher, begehrenswerter vorkam als alle Schätze, Entdeckungen und Siege dieser Welt. Ixnaay ist tot, dachte er, und doch kommt es mir vor, als würde sie in Helen weiterleben, ja als wäre sie in ihr erst ganz wirklich geworden, vom Phantom meiner Sehnsucht zu dieser wunderschönen jungen Frau aus Fleisch und Blut. In seinem Innern rangen Trauer und Jauchzen, Betrübnis und Entzücken miteinander, bis aus diesen so gegensätzlichen Gefühlen etwas scheinbar ganz Neues hervorging, eine Leidenschaft, die er doch insgeheim schon seit langem empfand. Alles, alles, was er bisher nur für Ixnaay zu fühlen glaubte, drängte sich mit einem Mal am Bug seiner Seele zusammen, die wie ein Kanu in wilder Strömung auf Helen zujagte. Waren sie beide, Ixnaay und Helen, nicht zwei Seiten derselben so lange entbehrten Geliebten, dachte Robert, wie Mond und Sonne, Nacht-und Tagseite, wie Traum und Wirklichkeit? Sein Herz begann zu klopfen, rascher und lauter als der Schmerz, der in seinem Nacken noch immer stetig pochte, unter dem Pflaster von der Form eines Fledermausflügels.
»Und aus einem weiteren Grund war es gut, daß wir beide hierhergekommen sind«, fuhr er endlich fort und mußte sich räuspern. »Weil wir einander gefunden haben, Helen.« Er stellte den Teller mit den abgenagten Hühnerschlegeln auf den Schemel zurück und streckte auch seine zweite Hand nach ihr aus. »Als ich nach Ixnaays Abschied wieder auf diesem Bett lag, dachte ich, daß nun alles verloren sei, alle Mühen und Entbehrungen vergeblich waren.«
Helen ergriff seine Hand, und er zog sie an sich. Im Türloch erschien auf einmal Mabo, mit besorgter Miene, aber Robert machte ihm ein abwehrendes Zeichen, und nach einem Blick auf Mr. Thompson, der den vermeintlichen Pferdeburschen umschlungen hielt und dessen Gesichtszüge mit unsäglichem Wohlgefallen studierte, zog sich Mabo nahezu lautlos wieder zurück.
»So wie dein Lächeln und manche deiner Gebärden mich immer an Henry erinnern werden«, sagte Robert, »so lebt in dir auch Ixnaay weiter, eure gemeinsame Herkunft, ihr besserer, glücklicherer Teil.« Sein Kopf senkte sich auf sie herab, und sie schloß erschauernd die Augen, aber anstatt sie zu küssen, sprach Robert mit bewegter Stimme weiter. »Als ich heute wieder zu mir kam, Helen, und du so wundersam verwandelt neben mir saßest, da verstand ich mit einem Mal, daß ich nichts und niemanden verloren, daß ich vielmehr alles, alles gewonnen habe, das Kostbarste und Köstlichste auf dieser Erde - wenn du nur mein wirst, Geliebte, und für immer bei mir bleibst.«
Da er sie nach diesen Worten noch immer nicht küßte, öffnete Helen die Augen wieder und sah, daß er sie gerührt und erwartungsvoll ansah. Sie lächelte zu ihm hinauf, schlang einen Arm um seinen Nacken, behutsam wegen der Wunde unter dem Fledermauspflaster, und zog seinen Mund
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