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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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geschehen. Sie entschwand buchstäblich vor seinen Augen, und er war gerade noch rechtzeitig erwacht, um von ihr Abschied zu nehmen. Aber in ihrem Blick war kein Schmerz, kein Zorn, nur ein wehmütiges Lächeln, als wollte sie sagen: Wir sehen uns wieder, mein Winikuj.
    Er befand sich nun mitten auf dem Platz, zwischen den glitzernden Pfützen, und sah fassungslos zu, wie die Barke an der Ruine emporfuhr, zwischen Fensterhöhlen, Stockflecken und Mauerlöchern. Auf dem First plagten sich zwei kleine braune Gestalten mit dem Seil ab, an dem das Silberboot pendelte, Mabo und Ajkech, doch Robert nahm sie kaum wahr. Ixnaays Blick haftete auf ihm, und er sah sie ebenso unverwandt an und ging weiter und weiter, atemlos und taumelnd, auf die himmelhohe Fassade zu, an der ihre Barke immer höher glitt.
    Erst als er unmittelbar vor der Tempelwand stand und mit zurückgelegten Kopf ihrem Boot hinterhersah, wie es mit einem kleinen Satz droben über die Dachkante sprang, wurde ihm mit einem Mal bewußt, daß neben ihm eine gleichfalls wohlbekannte Gestalt stand, in Burschenhosen und weitem, rotschwarz gestreiftem Hemd.
    »Henry!« Noch während er den Namen ausrief, spürte er, wie viel ihm auch diese Vertrautheit bedeutete, verwirrenderweise, und wie sehr es ihn tröstete, daß zumindest Henry bei guter Gesundheit schien. Er trat auf ihn zu und packte seinen Diener bei den Schultern, vor Wiedersehensfreude, aus körperlicher Schwäche, vor Sorge um Ixnaay, dies alles vermischte sich und wurde eins. »Um Himmels willen, Henry, was geschieht dort?« Er deutete nach oben. »Sag doch, was ist mit ihr?«
    Da konnte auch Helen ihren Schmerz und ihre Rührung nicht länger verbergen. »Ach, Mr. Thompson«, wisperte sie, und die Tränen schossen ihr förmlich in die Augen, »wie froh ich bin, Sie bei Bewußtsein und auf Ihren Beinen zu sehen! Und wie betrübt, Sie mit so furchtbarer Nachricht empfangen zu müssen: Ixnaay... sie wurde vergiftet... durch Ajkinsajs Messerwerfer, damals bei den Stelen... oh, Robert, niemand kann sie retten - Ixnaay stirbt!«
    Mit einem krampfhaften Schluchzer warf sich Henry an seine Brust, und Robert schnappte nach Luft, die ihm durch das straffe Tuch um seine Rippen ohnehin verknappt war. Auch wenn er die Wahrheit geahnt hatte, trafen ihn Henrys gestammelte Worte gleichwohl mit furchtbarer Wucht. So war doch alles vergebens,
    dachte er, unsere Liebe, Ixnaay, für immer nur ein Traum. Unbeholfen tätschelte er die Schultern des Burschen, die sich unerwartet weich anfühlten, was seine Verwirrung noch weiter steigerte, ebenso wie die wächserne Weichheit seiner Beine und das Schwindelgefühl hinter seiner Stirn.
    Erst mit einiger Verspätung wurde Helen bewußt, daß sie den nahezu nackten Mr. Thompson umarmt hie lt (auch sein Gesicht, das über dem ihren schwebte, wirkte ungewohnt nackt, da sie den Schlafenden gestern rasiert und seine Haare zurückgeschnitten hatte). Ruckartig ließ sie ihre Arme sinken und wich vor ihm zurück. »Verzeihen Sie, Sir, ich vergaß...« Ihre Wangen wurden brennend heiß.
    »Aber warum das Boot«, murmelte er. »Und sie schien doch noch am Leben, als sie...« Zu Helens Erstaunen wirkte Mr. Thompson kaum weniger befangen, als ob ihre Umarmung auch in ihm etwas Heimliches angerührt hätte. Hilflos schaute er von neuem an der Fassade empor, wo jedoch von der silbernen Barke nichts mehr zu sehen war.
    »Es war ihr Wunsch, Mr. Thompson, ihr letzter Wille. Ich bringe Sie nach oben, dort werden Sie alles verstehen. Bitte kommen Sie, Sir.«
    Abermals legte er einen Arm um Henry, und aufs neue wunderte er sich, wie anmutig rund sich die Schultern dieses Burschen anfühlten, und mehr noch, daß seine Gedanken und Gefühle sich schon wieder in diese närrische Richtung verirrten. Vage empfand er, daß sein Geist zu beno mmen, seine Seele viel zu bestürzt war, um wirklich zu erfassen, was Henry ihm eben unter Tränen erklärt hatte: »Ixnaay stirbt.« Henry führte ihn um die Tempelruine herum, zu den zerborstenen, von Dutzenden Baumwurzeln gesprengten Stufen der steilen Treppe, die geradewegs auf das Tempeldach führte. Seine Fußverletzung schien gänzlich ausgeheilt, nur ein fast unmerkliches Hinken und ein kleines, sichelförmiges Pflaster nahe dem Knöchel erinnerten noch an die Quetschung, die er durch die stürzende Stele erlitten hatte. Da Robert sich noch immer wacklig in den Knien fühlte, ermunterte er den Burschen, ihm einen stützenden Arm um die Hüften zu legen, und so

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