Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
zu wissen, dass es immer ein Fehler war, vor labilen Menschen Schwäche zu zeigen.
Der grässliche Hasenschädel wurde abgezogen und der feiste Kopf einer höchstens zwanzigjährigen Frau kam zum Vorschein.
Auch sie hatte sich das Gesicht geschminkt, aber im Gegensatz zu den anderen, die sich groteske Fratzen aufgemalt hatten, die herrische Grimassen und blutige Wunden zeigten, hatte sie die weiße Farbe und den schwarzen Stift benutzt, um ein wesentlich künstlerischeres Bild zu schaffen. Auf ihrem runden Gesicht mit den grellroten Linien und Flecken lag ein Ausdruck gehässiger Fröhlichkeit oder Schadenfreude, als hätte sie erst kürzlich etwas obszön Sadistisches getan.
Um sie für sich einzunehmen und dieses nervtötende Spiel zu einem Ende zu bringen, deutete Luke auf die wunden Stellen an seinem Kopf, der sich viel zu groß anfühlte. Er spürte eine dicke Kruste von getrocknetem Blut unter seinen Fingerspitzen. Die Wunde war noch immer feucht und in der Mitte offen. Der Verband, der jetzt hinter ihm auf dem grauen Kopfkissen lag, war derselbe, den Dom ihm ungeschickt umgebunden hatte, als er ohnmächtig auf dem felsigen Hügel lag, in der letzten Nacht, die sie draußen im Wald verbracht hatten. Diese weiß geschminkten Jugendlichen hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihm einen frischen Kopfverband anzulegen, und auch nicht daran gedacht seinen malträtierten und schmutzigen Körper zu waschen.
Nun saß er aufrecht da, und der Schmerz, der tief in seinem Schädel zu spüren war, das permanente Unwohlsein und der Schwindel machten ihm allzu deutlich klar, dass er dringend geröntgt werden musste. »Krankenhaus. Ein Arzt. Mein Kopf.« Sie schauten ihn weiter an, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen. »Ich brauche Hilfe, bitte.«
Der junge Mann, der die Ziegenmaske aufgehabt hatte, hob den Kopf und sagte mit einem zu einer traurigen Grimasse verzogenen Gesicht: »Bald.« Dann drehte er sich um, senkte den Kopf wieder und ging mit schweren Schritten auf die kleine Tür zu. Er musste knapp zwei Meter groß sein, seine Ausmaße wirkten in diesem engen Zimmer völlig grotesk. Kniekappen
aus Stahl blitzten über seinen riesigen Motorradstiefeln auf, in denen eine viel zu enge Hose steckte. Die Absätze der Stiefel waren mit Nieten oder kurzen Nägeln beschlagen.
Die Häsin kreischte Luke an und streckte ihm die Zunge heraus, die zwischen ihren glänzend schwarzen Lippen unerhört rot wirkte. Luke schreckte unwillkürlich zurück. Dann folgte sie dem Riesen auf ihren breiten schmutzigen Füßen und quetschte sich durch den schmalen Durchgang.
Luke sah den übrig gebliebenen jungen Mann an, der jetzt, wo er allein war, noch abartiger wirkte in seinem schauderhaften Nachthemd und dem schmalen, mit Clownsfarbe beschmierten Gesicht.
»Meine Freunde«, versuchte Luke zu erklären. »Sie wurden getötet. Ermordet. Sie müssen die Polizei rufen. Sofort. Verstehen Sie mich?«
Der junge Mann legte den Kopf schräg und sah ihn spöttisch an. Dann imitierte er die tiefe Stimme und den höhnischen Unterton des großen Kerls: »Du musst dich damit abfinden, dass es hier keine Polizei gibt. Sei froh, dass du noch lebst. Sehr glücklich kannst du sein, mein Freund. Wir haben kein Telefon. Aber jemand ist losgegangen, um Hilfe zu holen. Sie wird bald kommen.«
Völlig entgeistert starrte Luke ihn aus seinem Kastenbett heraus an. »Ich versteh nicht …«
Der Typ im Nachthemd streckte seine Brust heraus. »Alles ist gut. Bleib ruhig.« Dann hob er den CD-Player vom Boden auf und folgte den anderen durch die Tür.
Luke hörte das laute Klackern eines schweren Schlüssels in einem alten Schloss, dann das schwere Stapfen von drei Paar Füßen, die durch einen hölzernen Raum oder Korridor trampelten. Lange noch nachdem sie ihn allein gelassen hatten, war er unfähig sich zu bewegen und starrte entsetzt auf die abgeschlossene Tür.
50
Das metallische Klackern des alten Schlüssels in dem rostigen Schloss weckte Luke, der neben dem Bettkasten hockte und vor sich hin döste. Er richtete sich viel zu schnell auf und fiel gegen den Schrank. Der hölzerne Becher fiel zu Boden, der Krug kippte um und sein Inhalt ergoss sich über das Möbelstück. Das Aufschließen und Öffnen der Tür wurde hastiger.
Bevor Luke sich in eine halbwegs gerade Positur bringen konnte, sah er eine ältere kleine Frau in einem langen Kleid eilig hereinkommen und sich auf ihn zubewegen. Unter ihrem langen schwarzen Gewand, das sie bis zum
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