Im Totengarten (German Edition)
hin?« Laura, deren Haut sich über ihren eingefallenen Wangen spannte, schleppte sich wie eine alte Frau neben mir durch den Gang.
»Nicht weit. Wie wäre es damit, einfach eine Runde durch die Station zu drehen?«
Anfangs lief sie schweigend neben mir und blieb alle paar Meter stehen, weil sie außer Atem war. Dann aber passierte das, was jedes Mal geschah – sie öffnete den Mund und setzte zu einer Erklärung an. Aus irgendeinem Grund scheint Bewegung Menschen zu befreien, und Gedanken, die sie vorher stets für sich behalten haben, strömen plötzlich aus ihnen heraus. Auch Laura gab auf einmal die Geschichte ihrer Krankheit stückchenweise preis. Mobbing in der Schule, die erdrückende Fürsorge der Mutter und die Zeitschriften, die sie sich kaufte und in denen reihenweise Models, die auch als Erwachsene Kindergrößen trugen, abgelichtet waren. Ich habe keine Ahnung, weshalb Laura mir so ans Herz gewachsen war. Vielleicht lag es an ihrer Entschlossenheit, sich von keinem Menschen etwas vorschreiben zu lassen, und an ihrem geradezu verzweifelten Bemühen, möglichst couragiert zu sein. Auf den Weg zurück durch die Station stützte sie sich leicht auf meinen Arm und kam mir wie eine seltsame Mischung aus uralter Frau und kleinem Mädchen vor. Ich breitete eine Decke über ihren Beinen aus und setzte mich auf die Bettkante.
»Sie kommen doch wohl morgen wieder, oder?« Sie sah mich aus tränenfeuchten Augen an.
»Natürlich.« Ich berührte flüchtig ihre Hand und war überrascht, als sie nicht versuchte, sie mir zu entziehen.
Als ich zurück in meine eigene Etage kam, erkannte ich sofort den Mann, der vor der Tür meines Beratungszimmers saß. In dem hellgrauen Anzug sah er wie ein riesengroßer Felsblock aus, der mitten im Flur fallen gelassen worden war. DCI Burns stand langsam auf und reichte mir die Hand.
»Tut mir leid, wenn ich Sie bei der Arbeit störe, Alice.«
»Kein Problem. Bis zu meinem nächsten Termin habe ich noch ein paar Minuten Zeit.«
»Ich dachte, Sie würden vielleicht gerne wissen, wie weit wir sind.«
Er nahm mir gegenüber Platz, sah sich in meinem Zimmer um, und ich fragte mich, was er wohl von dem abstrakten Landschaftsgemälde, das mir eine ehemalige Patientin geschenkt hatte, und von dem köstlichen Fensterblatt, das in einem winzig kleinen Topf ums Überleben kämpfte, hielt.
»Wie kommen Sie bei den Ermittlungen voran?«, fragte ich ihn.
»Nicht wirklich gut«, räumte er seufzend ein. »Wie heißt es doch immer so schön? Wir gehen sämtlichen Spuren nach.«
»Aber bisher ohne Erfolg?«
»Offen gestanden läuft es ausgesprochen beschissen. Die Autopsie hat das ergeben, was wir bereits wussten. Nämlich, dass die Kleine halb verhungert war und irgendwo gefangen gehalten worden ist, wo sie nicht mal aufrecht stehen konnte, wie bei den Benson-Mädchen. Darauf deuten die Druckstellen an ihrem Rücken hin.«
Ich klappte kurz die Augen zu. »Er hatte sie in einer Kiste eingesperrt.«
»Oder in einem winzig kleinen Raum.« Burns blätterte in seinem Notizbuch, als wäre das Thema damit für ihn abgehakt. »Von Morris Cley gibt’s keine Neuigkeiten außer der, dass er vor zwei Tagen am Bahnhof London Bridge gesehen worden ist. Er war nicht mehr in der Wohnung seiner Mutter, seit er Sie angegriffen hat.«
»Solange er sich von mir fernhält, kann er machen, was er will.«
»Das kann ich verstehen.« Burns sah mich über den Rand von seiner Brille hinweg an. »Wie geht’s Ihrem Gesicht?«
»Gut. Schließlich wurde ich nicht gerade verstümmelt.«
Burns’ Lächeln wirkte wie ein winzig kleiner pinkfarbener Halbmond in dem teigigen Gesicht. »Sie machen nicht gern viel Aufhebens um sich, nicht wahr, Alice?«
Während eines Augenblicks erwog ich, Alvarez bei seinem Vorgesetzten zu verpfeifen. Burns hielt nämlich bestimmt nicht viel davon, wenn sich einer seiner Männer an die Frauen, für deren Schutz er ihn abkommandiert hatte, heranmachte. »Es gibt da etwas, was ich Ihnen sagen wollte«, fing ich an. »Ich habe einen Brief bekommen.«
»Post von einem Fan?«
»Nicht unbedingt. Er ist nämlich ziemlich ekelhaft und war an meine Wohnung adressiert.«
»Dann sollte ich ihn mir mal ansehen. Bringen Sie ihn, wenn Sie wollen, vorbei, oder ich schicke jemanden zu Ihnen, damit er ihn holt.«
»Es hat wahrscheinlich gar nichts weiter zu bedeuten«, sagte ich. »Wenn ein Patient wahnhaft veranlagt ist, können Sie sich noch so krummlegen, und trotzdem denkt er weiter,
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