Im Totengarten (German Edition)
betrat, teilte sich die Menge wie das Rote Meer, als Moses dort mit seinem Volk erschienen war, und eine Wand aus ausdruckslosen Mienen sah mir hinterher, als ich den Raum verließ. Wir gingen einen Korridor hinab, der sich von den jungfräulichen Gängen vorne im Gebäude deutlich unterschied. Hier hatten die Wände einen schmuddeligen Sepiaton wie die Decken der Pubs in der Zeit, als Rauchen noch erlaubt gewesen war. Burns zog einen altmodischen Schlüssel aus der Tasche und schloss damit eine große Holztür auf. Der Raum lag fast im Dunkeln, und der schmale Streifen Licht, der durch ein hohes Fenster fiel, war von Staubmotten durchsetzt.
»Sie müssen das Durcheinander entschuldigen«, murmelte er. »Es war schon seit einer ganzen Weile niemand mehr hier drin.«
Er drückte ein paarmal auf den Lichtschalter, aber die Lampen gingen immer nur kurz flackernd an und dann mit einem leisen Zischen wieder aus. Der Raum war derart zugemüllt, dass man kaum noch etwas von den Wänden und vom Boden sah. Verbeulte Pappkartons türmten sich neben Aktenbergen sowie großen Haufen brauner Briefumschläge auf; in einer Ecke waren vier oder gar fünf uralte Computer aufgebaut, und es war das reinste Wunder, dass der Tisch unter der Last der Aktenordner und Notizblöcke noch nicht zusammengebrochen war.
»Was ist das alles?«, fragte ich.
»Das Benson-Archiv. Sie wollten es doch sehen, oder nicht?«
Ich atmete tief durch. »Oje, ich hätte nicht gedacht, dass es dazu so viele Unterlagen gibt.«
»Zeugenaussagen, forensische Berichte, Vernehmungsprotokolle. Das volle Programm. Dreißig von unseren Leuten haben sich ein ganzes Jahr lang während unzähliger Überstunden durch das Zeug gekämpft.«
»Kann ich es mir mal ansehen?«
»Und was soll das bringen?« Burns starrte mich an.
»Die Antwort liegt hier irgendwo, nicht wahr? Weil unser Mann schließlich der Vorsitzende des Benson-Fanclubs ist.«
Er bedachte mich mit einem bösen Blick. »Wir sind uns bisher noch nicht mal sicher, ob es eine Verbindung zwischen diesen beiden Morden und den Briefen an Sie gibt. Konkrete Beweise gibt es dafür nicht.«
»Eine halbe Stunde, bitte, Don.«
Burns rollte mit den Augen, als wäre ich ein anspruchsvolles kleines Kind. »Also gut. Zumindest können Sie hier drin nichts anstellen.«
Ein paar Minuten später ließ er mich allein, und ich wischte den Staub von einem Stuhl, schob ihn unter das einzige Fenster und nahm eine Ablagebox vom Tisch, die vollgestopft mit Fotos war. Auf der Rückseite von jedem Bild waren die Namen und die Nummern der acht aufgefundenen Benson-Opfer sowie der fünf anderen Mädchen, die verschwunden waren, aufgeführt. Ich sah mir die Parade dieser jungen Frauen an. Einige von ihnen hatten extra für den Fotografen ein strahlendes Lächeln aufgesetzt, andere hingegen sahen ihn noch nicht mal an. Offensichtlich hatte Ray keinen besonderen Typ gehabt, abgesehen davon, dass sie alle jung gewesen waren. Eins der Mädchen sah wie höchstens sechzehn aus. Ich erinnerte mich noch aus den Nachrichten an ihr Gesicht. Ein durchgebrannter Teenie von der Westküste von Irland, der vom Glamour Londons angezogen, schließlich aber von den Bensons unter einer dicken Schicht Beton hinter dem Heim begraben worden war. Sie hatte eine dichte Mähne schwarzer Locken und ein neonhelles Lächeln im Gesicht, und es fiel mir schwer, mir vorzustellen, was der arme Alvarez empfunden haben musste, als Ray Benson ihm beschrieben hatte, was mit all den Mädchen unten in dem Kellerraum geschehen war. Kein Wunder, dass er nicht mehr wusste, wie man lächelte und fröhlich war.
Burns kam wieder, als ich mit den Fotos fertig war. Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf den noch freien Stuhl am Tisch, als wäge er den Energieaufwand des Stehens gegen den Komfort des Sitzens ab.
»Also gut, Alice«, erklärte er. »Ich werde Ihnen sagen, wie es weitergeht. Jemand von uns wird Sie nach Hause fahren, und von nun an gehen Sie nirgends mehr ohne Begleitung hin. Und wenn sich Ihr Bruder meldet, rufen Sie mich sofort an. Kapiert?«
»Natürlich.« Ich nickte, denn um ihm zu widersprechen, fehlte mir die Energie.
»Und machen Sie einen Bogen um Ben Alvarez, denn sonst kommt es bestimmt zu einer Explosion.«
Die Fahrt nach Hause verlief friedlich, weil der einsilbige Zehntklässler mich fuhr. Ich brauchte also nicht nur nicht zu reden, sondern mir blieb auch die Alvarez’sche Mischung aus Missbilligung und Machotum, der ich auf dem Weg zur
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