Im Totengarten (German Edition)
drei.« Ich zeigte nacheinander auf die Namen. »Bei ihm war ich im letzten Sommer zur Hochzeit eingeladen, ihn treffe ich ab und zu zum Essen, und Sean ist ein Kollege aus dem Krankenhaus.«
»Und wer hat diese Beziehungen jeweils beendet?«
»Sollte nicht Burns mir diese Fragen stellen?« Ich spähte in den Einsatzraum. »Schließlich leitet er diese Ermittlungen, nicht wahr?«
»Technisch gesehen wahrscheinlich ja. Aber er hatte vor sechs Monaten einen Herzinfarkt und ist gerade erst wieder in den Dienst zurückgekehrt.«
»Deshalb übernehmen Sie die Laufarbeit für ihn, um seinen Stress zu reduzieren.«
»So einfach ist das nicht. Er hat auch mir schon sehr geholfen.« Er beugte sich zu mir über den Tisch. »Hören Sie, Alice, wenn Sie mir sagen, wer diese Beziehungen beendet hat, werde ich Sie in Ruhe lassen.«
»Ich.«
»Welche?«
»Alle. Jede einzelne.«
Alvarez sah von der Liste auf und bekam urplötzlich einen völlig anderen Gesichtsausdruck. Statt wie bisher als dummes Weibchen, das zu dämlich war, um auf sich aufzupassen, sah er mich mit einem Mal anscheinend als gemeine Hexe an, die jeden Mann zerstörte, der jemals in ihre Nähe kam.
*
Die Aufzählung der Mitglieder meiner Familie ging schnell: meine Mutter, Will, eine gebrechliche Tante, die ich alle zwei Jahre an Weihnachten sah, sowie zwei Cousinen, die in der Dordogne lebten und dort ein Ferienzentrum leiteten. Langsam reifte in mir der Wunsch, sie hätten mich dorthin mitgenommen, denn dann wäre mir dies alles nie passiert.
Mit der Liste meiner Freunde und Kollegen jedoch kam ich deutlich langsamer voran, und von dem Bemühen, mir alle Namen, Daten und Zusammenhänge in Erinnerung zu rufen, tat mir irgendwann der Kopf weh.
Es war beinahe Mittagszeit, als Burns endlich erschien. Vielleicht hatte er den Vormittag ja einfach dösend hinter seinem Schreibtisch zugebracht, und Alvarez hatte die Arbeit der Kollegen überwacht. Der Plastikstuhl quietschte bedrohlich, als der DCI sich darauf fallen ließ. Danach brauchte er ein paar Sekunden Zeit, um sich zu erholen, bevor er sich mit einem seiner weißen Baumwolltaschentücher über Stirn und Wangen fuhr.
»Wir wissen, wer sie ist«, stieß er keuchend aus. »Sie heißt Suzanne Wilkes. Ihr Mann hat sie vor sechs Wochen als vermisst gemeldet. Sie hat für eine Wohltätigkeitsorganisation namens Street Safe gearbeitet.«
»Von denen habe ich schon mal gehört. Sie haben einen Bus, nicht wahr?«
»Ein Haufen intellektueller Gutmenschen, die Sandwichs an Junkies verteilen und Jobs für diese Typen suchen, in denen die es sowieso nie aushalten«, klärte Burns mich naserümpfend auf.
»Das ist also Ihre Sicht der Welt?«
Er antwortete nicht. Sein Gesichtsausdruck erschien mir wie der Inbegriff von Müdigkeit, und auf seiner Haut glänzte der Schweiß, den er bereits vergoss, wenn er sich nur auf den Beinen hielt.
»Gibt’s was Neues von dem Crossbones-Mädchen?«, fragte ich.
»Nicht die geringste Spur. Wahrscheinlich ist sie ohne Visum hier in England eingereist, hatte kein Dach über dem Kopf und auch nie einen Job. Sie scheint auf jeden Fall bei niemandem auf dem Radar zu stehen.«
»Und ihre Familie wird nie erfahren, dass sie nicht mehr lebt.«
»Wir geben noch nicht auf.« Burns fixierte mich mit seinen mikroskopisch kleinen Augen, als bekäme ich vielleicht gleich Flügel und flöge einfach davon.
Im Einsatzraum hinter der Glaswand setzten die Kollegen ihre Arbeit fort. Die handschriftliche Liste mit meinen Eroberungen hatte jemand abgetippt, auf DIN A3 vergrößert und für jeden sichtbar an der Pinnwand aufgehängt.
»Ich muss Ihnen etwas zeigen«, meinte Burns und zog ein Bündel Papiere aus der Aktentasche, die er in den Händen hielt. »Das ist der Bericht des Graphologen über die Briefe, die Sie uns gegeben haben.«
Mühsam rappelte der DCI sich wieder auf und ließ mich mit dem Gutachten allein. Ich hatte Graphologie immer als Mischung aus Pseudowissenschaft und totalem Humbug abgetan, der Bericht jedoch war überraschend interessant. Zu Anfang wurden Fakten aufgezählt. Der Schreiber hatte einen Füller mit Stahlfeder benutzt, einen großen Druck beim Schreiben ausgeübt, und die Zeilen und die Wörter wiesen jeweils einen ungewöhnlich gleichmäßigen Abstand zueinander auf. Danach zählte der Verfasser des Berichts eine Reihe persönlicher Eigenschaften meines Briefeschreibers auf. Er war organisiert und zwanghaft, und die rückwärts geneigten Buchstaben
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