Im Totengarten (German Edition)
verrieten, dass er passiv aggressiv war und nur darauf wartete, endlich dem Zorn Luft zu machen, der bereits seit längerem in ihm zu schwelen schien. An das Gutachten waren Kopien beider Briefe angeheftet, und ich untersuchte die nach links geneigte tadellose Schrift, bevor mein Blick noch einmal auf die erste Seite fiel.
Die interessanteste Schlussfolgerung des Graphologen hatte ich verpasst. Er erklärte, dass die Schrift der von Ray Benson ähnlich war, und hatte zum Beweis dieser Behauptung einen Ausschnitt von einem Brief, den ich nie zuvor gesehen hatte, beigefügt. Zwar war der Brief an Marie Benson adressiert, die Schrift jedoch sah ganz genau wie die meines verrückten Brieffreunds aus. Der Killer musste alte Zeitungen sowie das Internet nach Schriftstücken von Ray durchforstet haben, die in irgendwelchen Medien abgedruckt gewesen waren. Ich schloss meine Augen und versuchte, das alles zu verstehen. Dem Gutachten zufolge betrug die Wahrscheinlichkeit, dass der Killer seine ganz normale Schrift verwendet hatte, weniger als zehn Prozent. Offenbar kopierte er Ray Bensons Stil. Ich versuchte, mir ein Bild von dem Menschen zu machen, der sich über einen Schreibtisch beugte und geduldig stundenlang an einer Todesdrohung schrieb, doch es gelang mir einfach nicht.
14
Bis zum Mittag hatte ich derart viele Informationen zu verdauen, dass es schmerzlich hinter meinen Augen pochte und ich die Befürchtung hatte, in meinem Gehirn käme es im nächsten Augenblick zu einer Explosion. Ein Polizist, der aussah wie ein Schüler aus der zehnten Klasse, bot mir eine Tasse Tee an und verschwand danach genauso schnell, wie er erschienen war. Die Kunst des Small Talks war ihm eindeutig noch fremd.
Im Auge des Sturmes stand noch immer Alvarez. Die Leute im Einsatzraum umkreisten ihn, doch ganz egal, ob sie ihm irgendwelche Fragen stellten oder Dokumente zeigten, er reagierte auf die ihm eigene, immer gleiche Art. Er hörte schweigend zu und gab dann eine kurze Antwort, ohne dass er dabei auch nur einmal das Gesicht verzog. Sicher hatten die Kollegen ihm bereits ein Dutzend Spitznamen wie Mr Happy, Herzblatt oder Sonnenschein verpasst.
Als der Schuljunge mit meinem Tee zurückkam, hatte er so viele Löffel Zucker in dem dampfenden Gebräu verrührt, dass es ungenießbar war. Also stellte ich den Becher wieder weg, durchforstete meine Handtasche nach meinem Handy und klappte es auf. Drei neue SMS und eine Sprachnachricht warteten auf mich. Zweimal hatte Lola mir gesimst, und die dritte – rätselhafte – Nachricht kam von Sean. Er lud mich darin zum Abendessen ein, was wirklich überraschend war, denn ich an seiner Stelle wäre froh gewesen, eine komplizierte Frau wie mich endgültig los zu sein. Als Anrufer hatte die Mailbox meinen Bruder registriert, aber die paar Worte, die er auf das Band gesprochen hatte, konnte ich beim besten Willen nicht verstehen. Er klang angespannt, und seine Stimme war etwas zu hoch, als wären seine Stimmbänder die ganze Zeit gestrafft. Als ich ihn zurückrief, antwortete er nicht. Sicher war er in der Zwischenzeit zu seinem Bus zurückgekommen, aber nicht hineingelassen worden, weil schließlich die Spurensicherung noch nicht mit ihrer Arbeit fertig war.
»Sie können jetzt nach Hause gehen, wenn Sie wollen.« Während ich noch auf mein Handy starrte, erschien Alvarez im Raum. »Alles in Ordnung?«, fragte er mich in besorgtem Ton.
»Es ging mir noch nie besser.« Ich rieb mir den Nacken und fügte hinzu: »Nur mache ich mir Sorgen, weil ich keine Ahnung habe, was mit meinem Bruder ist.«
»Nach dem wollte ich Sie noch fragen.« Alvarez blätterte in einem Stapel von Papieren. »Sie haben uns seine Adresse nicht genannt.«
»Das stimmt.«
»Also, wo ist er gemeldet?«
»Nirgendwo.«
Alvarez klappte die Augen zu, als wäre mein Sarkasmus mehr, als er ertrug.
»Das ist kein Witz«, erklärte ich. »Normalerweise gibt er immer meine Adresse an, weil er keine eigene Wohnung hat.«
»Aber er muss doch irgendwas gemietet haben, oder?«
»Nein. Genau das ist es ja. Meistens schläft er in seinem Bus.«
»Ihr Bruder ist obdachlos?« Alvarez klappte die Kinnlade herunter, als hätte er etwas Unangenehmes verschluckt. Dann bemühte er sich, wieder seine ausdruckslose Miene aufzusetzen, aber es gelang ihm nicht. Weil ich offenbar aus seiner Sicht nicht nur eine Gefahr für meine Freunde, sondern obendrein noch so gefühlskalt war, dass ich meinen Bruder selbst im Winter auf der Straße
Weitere Kostenlose Bücher