Im Totengarten (German Edition)
seelenruhig an. »Du hast eine sehr hohe Schmerzgrenze, nicht wahr?«
»Und das heißt?«
»Das weißt du ganz genau. Du machst immer alles mit dir selber aus. Du lädst nie etwas bei Freunden oder im Kollegium ab, nicht mal während der Supervision.«
Ich blickte aus dem Fenster. »Und worauf führst du das zurück, Hari?«
»Vielleicht darauf, dass du als Kind zu viel Elend mitbekommen hast.« Er sah mich abermals aus seinen schokoladenbraunen Augen an.
»Aber jetzt bin ich erwachsen. Das liegt hinter mir.«
Hari wirkte überrascht. »Nichts liegt jemals wirklich hinter uns, Alice. Das weißt du genauso gut wie ich.«
»Ich muss mich jetzt um meine Patienten kümmern, aber trotzdem danke für die Warnung vor meiner latenten Depression.« Ich stand entschlossen auf.
»Eins noch.«
In Erwartung einer neuerlichen Warnung in Bezug auf meine angeschlagene geistige Gesundheit blieb ich widerstrebend stehen.
»Dinner, morgen Abend, zwanzig Uhr?«
»Ich komme auf jeden Fall«, sagte ich lächelnd zu.
An dem Tag gönnte ich mir eine Pause von den vielen eingegangenen Mails, denn ich war bereits frustriert genug. Falls jemand mich wirklich dringend bräuchte, könnte er auch anrufen, mir einen Brief schicken oder einfach vorbeikommen.
Morgens gaben die Patienten sich die Klinke in die Hand. Wegen meiner Plauderei mit Hari erschien ich bereits fünfzehn Minuten zu spät zu meinem ersten Therapiegespräch und musste versuchen, etwas Zeit zu schinden, weil ich niemanden gern warten ließ. Die interessanteste Person, die zu mir kam, war ein Mann, der unter hysterischer Blindheit litt. Sobald er in Stress geriet, verlor er die Fähigkeit, zu sehen, oder bildete es sich zumindest ein. Was, so oder so, eine unglaubliche Belastung für ihn war. Denn er konnte nicht mehr Auto fahren, weil er schließlich vielleicht plötzlich mitten auf einer vielbefahrenen Straße nichts mehr sähe, und mit etwas Pech gerieten dann auch seine Kinder, falls sie gerade auf der Rückbank säßen, in Gefahr. Wir kamen darin überein, dass er in einem Tagebuch die Auslöser seiner Attacken festhalten und im Rahmen einer zwölfwöchigen Therapie trainieren sollte, mit den Situationen angemessen umzugehen.
Nach dem Mittagessen fuhr ich kurz auf die Station, auf der Laura Wallis lag. Sie hatte es sich in ihrem Bett bequem gemacht und blätterte in einem Buch mit einem leuchtend pinkfarbenen Umschlag, als ich in ihr Zimmer kam.
»Ein gutes Buch?«, erkundigte ich mich und setzte mich auf einen Stuhl.
»Eine ziemliche Schnulze«, klärte sie mich naserümpfend auf.
Ich sah mir den Umschlag an. »Scheint ein Liebesroman zu sein.«
»Mum liebt dieses Zeug. Sie hat Hunderte von den Dingern zu Hause.«
Ich erinnerte mich an den ängstlichen Gesichtsausdruck der Frau. Die arme Mrs Wallis sehnte sich anscheinend inbrünstig nach einer Welt, in der alles ein gutes Ende nahm.
Die Karte am Fußende des Bettes zeigte, dass das Mädchen weiter zugenommen hatte. »Du machst deine Sache wirklich toll. Bald hast du bestimmt dein Zielgewicht erreicht.«
Sie sah mich strahlend an, als hätte ich ihr einen goldenen Stern verliehen. »Ich muss an meinem Geburtstag wieder zu Hause sein.«
»Und wann ist der?«
»Montag in einer Woche.«
»Dann fängst du besser langsam an, doppelte Portionen Pudding zu bestellen.«
Sie verzog so angewidert das Gesicht, als hätte ich ihr den Verzehr ihres Lieblingstieres ans Herz gelegt.
Als ich wieder in mein Beratungszimmer kam, war die Welt in einer dichten Nebelwand verschwunden, die gleich einem schmuddeligen Baumwolltuch vor meinem Fenster hing. Ich zog eine Liste neuer Überweisungen aus dem Stapel unbearbeiteter Schriftstücke, der auf meinem Schreibtisch lag, als das Klingeln meines Telefons die kaum begonnene Arbeit bereits wieder unterbrach.
»Alice, Sie müssen bitte sofort auf die Wache kommen. Ich habe Ihnen einen Wagen zum Krankenhaus geschickt.« Burns’ Stimme klang eindringlich und noch kurzatmiger als sonst.
Sie mussten Will gefunden haben, und wahrscheinlich trommelte er jetzt mit beiden Fäusten auf die Wände seiner Zelle ein. Ehe Burns noch etwas sagen konnte, ließ ich schon den Hörer auf die Gabel fallen und rannte los. Als mir einfiel, dass mein Mantel an der Tür meines Beratungszimmers hing, war es bereits zu spät, um noch mal umzudrehen. Ich war derart in Schwung, dass mir keine andere Wahl blieb, als zu rennen, bis ich unten war.
16
Burns saß mit einer Tasse Tee in seinem Büro auf
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