Im Totengarten (German Edition)
ebenbürtig war. Es machte einfach keinen Spaß, einen Schwächling anzugreifen, als wäre man der größte Schläger auf dem Pausenhof. Er ließ Cley ein paar Minuten Zeit, um sich zu sammeln, und als er die nächsten Fragen stellte, hatte seine Stimme einen beinahe sanften Klang.
»Was haben Sie in Ramsgate so getrieben, Morris?«
Cley wirkte verwirrt. »Meistens habe ich ferngesehen.«
»Sie waren also die ganze Zeit bei der alten Dame im Haus.« Alvarez zog beide Brauen hoch. »Aber Sie haben auch Ihre Freunde angerufen, stimmt’s? Dazu haben Sie eine Telefonzelle benutzt, nicht wahr? Also, Morris, von wo aus haben Sie mit Ihren Kumpels telefoniert?«
Cley schüttelte feierlich den Kopf, wie ein Kind, das vor dem Rektor stand und standhaft leugnete, dass es nicht zum Unterricht erschienen war. »Ich habe das Haus nie verlassen.«
Alvarez versuchte noch fast eine halbe Stunde lang, ihm Informationen zu entlocken, doch es war ein harter Kampf, und schließlich blickte er in unsere Richtung, so, als könnte er uns durch den Spiegel hindurch sehen. Er wirkte erschöpft wie ein Boxer, dessen große Zeit vorüber war.
»Er verschweigt uns irgendwas«, murmelte Burns.
»Das glaube ich nicht.« Ich hielt seinem Blick stand. »Cley ist nicht intelligent genug, um eine Frau in eine Falle zu locken oder gar zu Tode zu foltern.«
»Aber seine Kumpels haben offenbar genügend Grips dazu. Lassen Sie sich nicht davon ins Bockshorn jagen, dass er den Idioten spielt. Schließlich kannte er die Bensons, schließlich hat er jahrelang mit Leuten rumgehangen, die der reinste Abschaum sind.«
»Und warum jagen Sie dann nicht alle Leute, die jemals im Heim der Bensons waren?«
»Das tun wir ja.« Burns schob sich seine Brille auf die Nase. »Nur dass die meisten falsche Namen angegeben haben. Und eine ordentliche Buchführung hat Ray nie wirklich interessiert.«
»Ich glaube trotzdem immer noch, dass Sie auf dem falschen Dampfer sind. Man sieht es seiner Körpersprache an, dass er nichts zu verbergen hat.«
»Einigen wir uns einfach darauf, dass wir zwei unterschiedlicher Meinung sind.« Er verschränkte seine Arme vor der Brust. »Nach meiner Ansicht steckt er bis zum Hals in dieser Sache drin.«
»Wie lange können Sie ihn festhalten?«
»Sechsunddreißig Stunden«, antwortete Burns. »Aber wir können von Glück reden, wenn ihn seine Anwältin nicht schon vor heute Abend wieder rausbekommt.«
Ich erwog, Burns zu erklären, dass es ein klassisches Symptom von Paranoia war, sich Sachen einzubilden, die es gar nicht wirklich gab, aber seine angespannte Miene machte deutlich, dass ich mir die Mühe sparen konnte. Denn er hätte mich ganz sicher nicht gehört.
»Was machen Sie in den nächsten Stunden, Alice?«, fragte er mit einem Mal.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. »Ich hole mir etwas zu essen, und dann fahre ich nach Hause und lege mich mit einem großen Glas Weißwein auf die Couch.«
Irgendwie gelang es Burns, mich dazu zu überreden, die Entspannung noch ein wenig zu verschieben, und so saß ich wenig später neben ihm in seinem Mondeo, auf dessen Rückbank eine leere Tüte von McDonald’s neben einem halben Dutzend leerer Coladosen lag und in dem es immer noch nach Zigaretten und nach Fast Food roch.
»Trinken Sie etwa dieses Zeug?«, fragte ich entsetzt, wobei ich auf die leeren Dosen deutete.
»Nicht schuldig. Ich habe es bisher einfach noch nicht geschafft, den Müll der Kinder zu entsorgen.«
»Dann sind Sie selber also ein Gesundheitsfreak?«
»Ganz sicher nicht.« Er starrte vor sich auf die Straße. »Aber es geht nichts über einen dreifachen Bypass, um einen zu zwingen, auf Diät zu gehen. Ich habe im letzten Vierteljahr schon dreizehn Kilo abgespeckt.«
»Erstaunlich«, antwortete ich und sah ihn von der Seite an. Von seinem Normalgewicht schien er noch immer gut vierzig Kilo entfernt zu sein. Seine leidgeprüfte Frau hatte wahrscheinlich Wochen damit zugebracht, ihn an Salat und Couscous zu gewöhnen, und ich fragte mich, wie sie wohl reagieren würde, wenn sie wüsste, dass er weiter heimlich qualmte, wenn sie gerade mal nicht in der Nähe war. »Wo fahren wir überhaupt hin?«
»Zu einer gewissen Cheryl Martin. Sie hat als einziges Opfer der Bensons überlebt.«
»Und wie hat sie es geschafft, ihnen zu entkommen?«
Wir durchquerten gerade Bishopsgate, und in der Liverpool Street sah ich Horden regennasser Pendler zitternd auf den Bürgersteigen stehen, wo sie darauf warteten, dass die
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