Im Totengarten (German Edition)
murmelte Meads. »Und wer ist sonst noch hier?«
»Eine Zeitlang hatten sie Charles Bronson, den gefährlichsten Mann Großbritanniens, hier. Und Beverley Allitt. Die Klatschpresse hat sie als Todesengel tituliert.«
»Und warum?« Er hing wie gebannt an meinen Lippen. Vielleicht eilte er ja jeden Abend nach der Arbeit in seine Wohnung und versenkte sich in Zeitschriften, in denen es um wahre Verbrechen ging.
»Sie war eine hübsche blonde Krankenschwester, hat aber vier ihrer Patienten umgebracht. Sie hat versucht, noch viel mehr von ihnen ins Jenseits zu befördern, nur hat man sie mit Hilfe von Videoaufnahmen überführt.«
Noch immer waren seine Augen vor Erstaunen kugelrund. »Beschwört man nicht dadurch Schwierigkeiten herauf, dass man einen Haufen Irrer an einem Ort zusammen hat?«
»Eigentlich nicht. Es kommen vier Angestellte auf jeden Insassen, und die Patienten werden ständig neu evaluiert. Es gab schon seit Jahren keinen Ärger mehr.«
Trotz meiner beruhigenden Worte schien es Meads zu widerstreben, mit mir in das Krankenhaus zu gehen. Seine Haut sah wächsern aus, und er atmete hörbar aus und ein. So reagierten die Leute oft. Sie hatten Angst davor, mit Wahnsinn in Kontakt zu kommen, so, als könnten sie sich damit anstecken oder als wäre schon der Anblick geisteskranker Menschen ungesund. Meads schlurfte hinter mir den Gang hinab und versuchte, nicht nach links und rechts zu sehen, denn dann tauchte ja vielleicht ein Irrer in seinem Gesichtsfeld auf. Auf den ersten Blick erschien der Ort mit seinen leeren cremefarbenen Wänden und den geschmacklos gemusterten Vorhängen wie ein ganz normales Krankenhaus. Mit dem einzigen Unterschied, dass es Gitter vor den Fenstern gab und jede verstärkte Glastür sich umgehend wieder hinter uns schloss. Ich spürte, wie sich meine Brust zusammenzog. Würde dieses Haus verriegelt, gäbe es kein Entkommen mehr.
Schließlich kamen wir zu einer Tür mit einem kleinen Glasfenster. Dahinter war Marie Benson ins Gespräch mit irgendwem vertieft. Sie sah völlig anders aus als bei unserem letzten Treffen, irgendwie verjüngt und mit ihrem typischen Zahnlücken-Lächeln im Gesicht. Sie behielt ihr Grinsen während mehrerer Minuten bei. Der Mann, mit dem sie sprach, machte seine Sache offenkundig wirklich gut. Immer wenn sie etwas sagte, hörte er aufmerksam zu und schrieb stichpunktartig mit. Schließlich aber stand er auf und trat zu Maries unverhohlener Enttäuschung in den Flur hinaus. Ich hatte keine Ahnung, wer er war, aber seine Jeans und seine Cordjacke waren für einen Psychiater deutlich zu leger. Lächelnd kam er auf uns zu und reichte mir die Hand.
»Marie erwartet Sie bereits«, erklärte er. »Ich bin Gareth, ihr Schreiblehrer.«
Er lehnte sich derart entspannt gegen die Wand, als hätte er den ganzen Tag hier stehen und mit mir plaudern können. Gott sei Dank war Lola jetzt nicht hier, denn sie hätte sich sofort in ihn verliebt. Er war groß und schlank, mit einem lebhaften Gesicht, dessen Ausdruck sich sekündlich änderte, weshalb ihm jede noch so winzige Gefühlsregung beinahe überdeutlich anzusehen war, und seine Augen hatten das leuchtende, beinahe türkisfarbene Blau, auf das ich als junges Mädchen total abgefahren war.
»Ist sicher ein ziemlich anstrengender Job«, bemerkte ich.
Er lachte fröhlich auf. »So könnte man es formulieren. Meistens bin ich mit einem Schüler oder einer Schülerin allein, und dann ist der Austausch oft unglaublich intensiv.«
»Was schreibt Marie denn so?«
Er drückte sich sein Clipboard an die Brust. »Dieses Jahr Gedichte, aber letztes Jahr hat sie hauptsächlich Kurzgeschichten verfasst.«
»Und Sie helfen ihr dabei, ihre Gedichte zu verbessern?«
»Meistens ist sie sich ganz sicher, was sie sagen will. Dann formuliere ich für sie vor, und wir gehen alles so lange zusammen durch, bis sie zufrieden ist. Ich bin sicher, dass sie sich unglaublich freuen würde, wenn Sie sich ein paar von ihren Sachen ansähen«, erklärte er mir ernst.
Es fiel mir schwer, mir die Geschichten vorzustellen, auf die jemand wie Marie kam. Wahrscheinlich nicht gerade die ideale Bettlektüre für ein kleines Kind.
Wieder sah der Mann mich lächelnd an. »Ich muss allmählich los. Es wartet nämlich noch ein Schüler auf mich.«
Ich fragte mich, wie er es schaffte, seine Tage mit den unberechenbarsten und gewalttätigsten Menschen Großbritanniens zu verbringen und dabei noch so entspannt zu sein. Er fischte eine
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