Im Totengarten (German Edition)
Angst vor einem Rüffel durch den Boss die Hacken zusammen und lief eilig los.
Die Fahrt dauerte nicht mal zehn Minuten, und obwohl es sicher jeden Moment anfing zu schneien, baute sich ein halbes Dutzend Radfahrer in leuchtenden Lycra-Outfits neben uns an einer roten Ampel auf. Es war einfach unglaublich, wie zäh die Londoner Radler waren. Jährlich kamen Dutzende von ihnen um oder wurden schwer verletzt, aber trotzdem sah man sie auch weiterhin bei jedem Wetter auf der Straße, wo sie gegen die PKWs und Laster kämpften wie David gegen Goliath.
Auf Wills Station war alles ruhig. Zwei Polizeibeamte saßen vor der Zimmertür, als rechneten sie jeden Augenblick damit, dass er in den Flur geschossen kam, um zu fliehen.
Lola musste kurz zuvor bei meinem Bruder zu Besuch gewesen sein. Sie hatte eine Tüte Pfirsiche auf das Tischchen neben seinem Bett gelegt und eine Karte, auf der sie ihn anwies, umgehend wieder gesund zu werden, und auf der ich unter ihrem Namenszug die für sie typischen, schwungvoll gezeichneten Küsse sah. Ich berührte seine Stirn. Seine Haut war feucht und heiß. Bisher hatte er mich nicht bemerkt. Seine Augen waren auf das geschlossene Fenster gerichtet, als wollte er die Wolken zählen.
Ich setzte mich auf die Bettkante und versuchte, eine seiner Hände einzufangen, doch sie waren ständig in Bewegung und flatterten zwischen seinem Gesicht und seinem Oberkörper hin und her. Vielleicht war der Raum ja voller Fliegen, die außer meinem Bruder niemand sah. Die Venen an seinem Hals quollen wie dicke Seile unter seiner Haut hervor, und er sprach leise mit sich selbst, als wäre er ein Schauspieler und läse einen neuen Text zum ersten Mal.
»Kannst du mich hören, Will?«
Er plapperte einfach ohne Pause weiter. Seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er einen erschreckend weiten Weg zurückgelegt. Selbst wenn ich ihn lautstark angeschrien hätte, hätte er mich wahrscheinlich nicht gehört. Aber wenigstens verhinderte der Rahmen um seine Beine, dass er plötzlich sein Bett verließ.
Ich war entsetzt. In dem Zustand hatte er während der letzten Nacht bestimmt kein Auge zugemacht. Die Medikamentenkarte, die am Fußende des Bettes hing, zeigte, dass ihm regelmäßig das Beruhigungsmittel Nembutal und Codol gegen die Schmerzen verabreicht wurden, was der Grund für sein nervöses Zucken war. Kein Beruhigungs- oder Schmerzmittel der Welt reichte in einem Fall wie seinem aus. Ohne Methadon war er auf kaltem Entzug, und wenn er erst wieder zu sich kam, könnte er sich auf zwei Wochen höllischer Qualen freuen.
Plötzlich tauchte aus dem Nichts Sean im Zimmer auf. In seinem weißen Mantel hatte er sich offenkundig einen Weg unter Angies Radar hindurchgebahnt. Sie stand draußen im Flur und plauderte mit einer Assistenzärztin, als hinge ihr Leben davon ab.
»Er macht langsam Fortschritte«, stellte Sean mit ruhiger Stimme fest.
Ich wandte meinen Blick nicht von meinem Bruder. Sein Gesichtsausdruck wechselte ständig zwischen einem irren Grinsen und einem Ausdruck des Entsetzens ab, als würde er gezwungen, ein ums andere Mal denselben Horrorfilm zu sehen.
»So sieht’s aber nicht aus.«
»Das hier muss die Hölle für dich sein.« Er trat so dicht neben mich, dass er fast mit seinem Arm an meine Schulter stieß. »Hast du gehört, dass deine Freunde von der Polizei mich verhört haben? Ich sollte ihnen sämtliche schmutzigen Details von uns beiden erzählen.«
Er war immer noch geradezu unglaublich attraktiv, wie der Held in einem Märchen, dessen Aufgabe die Rettung junger Frauen war. Als er sich zu mir herunterbeugte und mich küsste, war ich anfangs zu schockiert, um ihn zurückzustoßen, dann aber machte mir irgendwas an der Berührung richtiggehend Angst. Seine kalten Finger lagen um mein Handgelenk, und ich hatte das Gefühl, als hätte er den Augenblick von langer Hand geplant.
»Hör auf, Sean.« Ich entriss ihm meinen Arm, und er wirkte so verwirrt, als hätte ihm bisher noch nie eine Frau eine derartige Absage erteilt.
»Es ist deine Schuld, Alice. Ich kann einfach nicht mehr richtig denken.« Seine dunkelblauen Augen bohrten sich in mich hinein. »Irgendwie hat mein Gehirn die Arbeit eingestellt.«
Darauf fiel mir einfach keine Antwort ein, und so sagte ich nur: »Es tut mir leid, dass dich die Polizei belästigt hat«, und wandte mich wieder meinem Bruder zu. »Aber jetzt muss ich mich erst mal hierauf konzentrieren.«
»Warum lässt du dir nicht von mir helfen,
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