Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Bruch im Strom des Alltäglichen, der erklärt hätte, warum ausgerechnet der heutige Tag ein ganz besonderer sein sollte, der seinem Leben eine Wende gab? Eigentlich war nichts Weltbewegendes passiert. Höchstens …
Als Tolik tags zuvor von seiner Schicht auf den Schweinefarmen des Retschnoi woksal zurückkam, war gerade ein e Versammlung in Gang gewesen. Man stimmte über einen Vorschlag von Onkel Mischa alias Nestor ab, der angeregt hatte, ihre Station von Woikowskaja in Guljaipole umzubenennen . A llzu hitzig wurde nicht diskutiert, doch wie üblich gab es Bedenkenträger.
Der Kommandant der Metropartisanen sah sich deshalb gezwungen, einen Exkurs in die Geschichte zu machen und seinen Kritikern unter die Nase zu reiben, was für ein ausgemachter Bastard der Bolschewist Woikow gewesen war – ganz abgesehen davon, dass er bei der Ermordung der Zarenfamilie seine Finger im Spiel gehabt hatte. Weiters erklärte der Kommandant, dass Guljaipole der ideale Name für die bisherige Woikowskaja sei, da er den neuen Geist der Station als Hauptquartier der freien Gemeinschaft der Anarchisten verkörpere. Zur Illustration dieser These referierte er über Reformen, die Nestor Machno zur Blütezeit seiner in Guljaipole verankerten Republik durchgeführt hatte. Dabei erwähnte er so amüsante Details, dass Tolik beinahe laut losgelacht hätte.
Obwohl Anatoli noch keine dreißig war, hatte er an den anarchistischen Theorien einen Narren gefressen und beteiligte sich rege an ideologischen Diskussionen, die gelegentlich auch mit Fäusten ausgetragen wurden.
Di e Versuche des historischen Nestor Machno, die Ideen von Kropotkin und Bakunin während des Bürgerkriegs in die Praxis umzusetzen, erschienen Tolik naiv. Es wäre absolut nicht in seinem Sinne gewesen, wenn sich die Woikowskaja im Streben nach den hehren Idealen von Freiheit und Moral in eine unterirdische Miniaturausgabe von Guljaipole anno 1919 verwandelt hätte.
Allerdings wusste Tolik, dass gerade eine solch chaotische Manifestation des Freiheitsgedankens ganz nach dem Geschmack vieler Bewohner der Woikowskaja gewesen wäre. Um die Reflexe einer primitiven Volksherrschaft im Geiste der Saporoger Sitsch aus dem Bewusstsein der Leute zu tilgen, waren viel Zeit, Geduld und Überzeugungskraft vonnöten.
Letztere besaß Nestor im Überfluss. Im Anführer der Anarchisten paarte sich ein beeindruckendes Äußeres mit einem herausragenden Rednertalent. Er war ein Zweimetertitan mit einer silbergrauen Mähne und den scharf geschnittenen Gesichtszügen eines antiken Helden. Sein ursprünglich schwarzer Ledermantel war völlig abgewetzt und zu gelblicher Farbe verblasst. Dazu trug er eine edle Kosakenmütze, die vermutlich aus dem Revolutionsmuseum stammte, eine Stiefelhose und ebenfalls museumsverdächtige Rindslederstiefel im Ziehharmonika-Design. Er war der unumstrittene Führer der anarchistischen Freiheitsbewegung.
Nicht zum ersten Mal staunte Tolik über Nestors rhetorische Fähigkeiten. Im kleinen Kreis schwang der Kommandant der Metropartisanen nie große Reden. Er schwieg lieber und hörte anderen zu. Doch sobald er vor ein größeres Publikum trat, legte er seine Zurückhaltung ab. Wenn Nestor mit wehender Mähne zu den Leuten sprach, strahlte er eine unerschütterliche Selbstsicherheit aus. Im Unterschied zu idealistischen Theoretikern wie Tolik wusste er, wie man die Menge hinter sich bringt.
Tolik war in einer Moskauer Intellektuellenfamilie aufgewachsen. Seine Mutter hatte ein Forschungslabor an der Timirjasew-Landwirtschaftsakademie geleitet, sein Vater als Redakteur bei einer großen Literaturzeitschrift gearbeitet. In diesem Umfeld kam Tolik schon von Kindesbeinen an mit Büchern in Berührung, die nicht jeder Erwachsene las, und lauschte Küchengesprächen, die sich um moralische Werte und di e Verantwortung des Künstlers für die Gesellschaft drehten.
Durch die Erziehung im Geiste verantwortlichen Handelns war Tolik früh selbstständig geworden. Schon mit sechs Jahren fuhr er allein und unfallfrei zum privaten Geigenunterricht, der immerhin zwei Metrostationen entfernt stattfand.
Seine Eltern waren ganz zu Anfang der Katastrophe ums Leben gekommen. Tolik dagegen hatte gleich zweimal Glück gehabt . A n jenem Tag, als ihr neunstöckiges Wohnhaus von der Druckwelle hinweggefegt wurde, hatten seine Eltern ihn mit der Geige unter dem Arm gerade zum Unterricht geschickt.
Als der Junge wieder an die Oberfläche wollte, versperrte ihm ein Strom zu Tode
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