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Im Visier des Verlangens

Im Visier des Verlangens

Titel: Im Visier des Verlangens
Autoren: Courtney Milan
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bedachte Louisa mit einem langen, vielsagenden Blick, den sie erhobenen Hauptes standhaft erwiderte. Diese Szene hatte Ned mit ihr in der Kutsche geübt, wobei er unter den gegebenen Umständen nicht einmal einen Bruchteil des Hasses zustande gebracht hatte, den Harcroft an den Tag legte. Seltsamerweise hatten ihn nicht seine höllischen Schmerzen daran gehindert, da er einen Zustand erreicht hatte, in dem Schmerzen keine Bedeutung mehr darstellten. Die eigentliche Herausforderung bestand darin, in der Gegenwart zu bleiben.
    Und er sah sich immer noch gezwungen, in der Gegenwart zu bleiben. Harcroft streckte erneut die Hand nach seiner Frau aus. Ned war sich nicht sicher, was der Earl beabsichtigte, aber er hatte Louisa versprochen, nicht zuzulassen, dass ihr Ehemann sie anfasste. Also warf er sich einigermaßen ungeschickt zwischen die beiden, ergriff Harcrofts Hand und schüttelte sie.
    „Geh mir aus dem Weg, Carhart“, knurrte der Earl zwischen den Zähnen und zeigte ein verlogenes Lächeln.
    „Deine Frau hat eine Pistole in ihrem Retikül“, warnte Ned mit verhaltener Stimme. „Wenn du sie anfasst, erschießt sie dich.“
    Harcroft warf einen gehetzten Blick über Neds Schulter. „Eine Morddrohung“, erklärte er schließlich. „Wie drollig.“ Er bedachte seine Frau mit einem letzten hasserfüllten Blick. „Genieße deine Freiheit“, zischte er. „Wie ich höre, gibt es in der Schweiz ausgezeichnete Sanatorien für solche Fälle.“
    Bei seinen Worten wurde Ned von völlig unangebrachter Heiterkeit erfasst. Seine Vermutung war also korrekt: Harcroft hatte tatsächlich beim Court of Chancery ein Verfahren eingeleitet, um Louisa für geisteskrank erklären zu lassen. Beileibe kein Grund zur Heiterkeit, lediglich eine Bestätigung von Harcrofts niederträchtigen Machenschaften. Nur gut, dass wenigstens das Verfahren vor dem Bezirksgericht gegen Kate eingestellt worden war. Allerdings war Neds Heiterkeitauch noch aus einem anderen Grund unangebracht, denn damit kehrte wieder Gefühl in ihn zurück. Und mit dem Gefühl der unwiderstehliche Drang, seinen Kopf so lange gegen eine Wand zu schlagen, bis er das Bewusstsein verlor und den Schmerz nicht mehr spürte. Harcroft stierte noch eine Weile vor sich hin, dann verließ er steifbeinig den Saal.
    Der wahre Grund, warum Ned es bis hierher geschafft hatte, der wahre Grund, warum er diese mörderischen Schmerzen ertrug, schwebte anmutig den Mittelgang entlang auf ihn zu. Kate sah wunderschön aus, zart und zerbrechlich und zugleich stark und unbezwingbar. Eine Frau, die es mit Bezirksrichtern und Verrückten gleichermaßen aufnahm und nicht einmal erstaunt blinzelte, wenn sie im Staub vor ihr krochen.
    Sie näherte sich, und er hätte sie in die Arme geschlossen, wäre ihm nicht bewusst gewesen, vor ihr auf der Nase zu landen, wenn er die Banklehne losließ, an die er sich verzweifelt klammerte.
    Schließlich blieb sie vor ihm stehen und lächelte scheu. Er bewunderte die Schönheit ihres Lächelns durch den grauen Nebel seiner Schmerzen.
    „Du siehst wunderbar aus“, erklärte sie, „und schrecklich zugleich.“
    „Gefällt dir mein Anzug? Es war schon immer mein Wunsch, eine neue Modelinie praktischer Reisekleidung für den vornehmen Herrn zu kreieren. Den Knoten meiner Krawatte nenne ich ‚den Imaginären‘.“
    Fragend zog sie die Brauen hoch. „Welche Krawatte?“
    „Genau.“
    Sie lachte. Gut zu wissen, dass er sie immer noch zum Lachen bringen konnte. „Dreh dich um“, schlug sie vor, „ich möchte deine neueste Kreation auch von hinten bewundern.“
    „Oh nein. Ich drehe mich bereits“, erklärte er ernsthaft. Und das stimmte auch. Der Saal beschrieb eine träge Umlaufbahn um ihn, und Kates Gesicht drehte sich mit ihm wie ein heller Mond in sternenklarer Nacht.
    Louisa fasste Ned am Ellbogen. „Kate, ich muss dir etwas sagen.“
    Auf Kates Stirn bildete sich eine Sorgenfalte. „Ned, du siehst aus, als würdest du jeden Moment umfallen.“
    Nein. Nur das nicht. Er hatte bewiesen … hatte bewiesen … er hatte etwas ziemlich Wichtiges bewiesen, und sobald der Saal aufhörte, sich um ihn zu drehen, würde er wissen, was es war.
    „Komm“, hörte er Kate sagen. Sie fasste ihn am anderen Ellbogen, und gemeinsam führten die Freundinnen ihn zu einem Stuhl, auf den er schwer plumpste, worauf ihm der Schmerz wie ein glühendes Messer in die Schädeldecke stach.
    „Du warst die ganze Nacht unterwegs“, stellte Kate sachlich fest, „und bist
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