Im Visier des Verlangens
als bewahrheiteten sich ihre schlimmsten Befürchtungen. Unverwandt sah er sie an, und sie konnte sich denken, was in ihm vorging. Er tadelte sie, ihn nicht eingeweiht zu haben, warf ihr vor, dass er seine Zeit mit einer sinnlosen Suche hatte vergeuden müssen. Nein, er war ihr keineswegs freundlich gesinnt.
Zu ihrem Erstaunen nickte er ihr ernsthaft zu.
Der Bezirksrichter trat ein. Die Geschworenen wurden vereidigt. Statt mit ernsten Mienen auf die Verlesung der Anklage zu warten, warfen die Männer einander hämische Blicke zu, als schätzten sie sich privilegiert, über das Schicksal einer Angeklagtenin einem Prozess zu bestimmen, der wochenlang für Aufsehen in London sorgen würde. Die offenkundige Schadenfreude der Geschworenen trug nicht dazu bei, Kates Vertrauen in die herrschende Gerichtsbarkeit zu heben.
Und dann ergriff Harcroft das Wort. In den Wochen seit dem Verschwinden seiner Gemahlin hatte er Erstaunliches geleistet, um Informationen zusammenzutragen – weit mehr, als Kate befürchtet hatte. Er ließ Zeugen auftreten – den Ehemann der Kinderfrau aus Yorkshire, der ein Schreiben der Agentur vorlegte, die Kate damit beauftragt hatte, eine geeignete Frau zu finden. Zwei Angestellte der Poststation sagten aus, dass Kate die Kinderfrau bei ihrer Ankunft in London in Empfang genommen hatte. Danach die Aussage eines ihrer Kutscher, der Kate mit einem Säugling nach Berkswift gefahren hatte. Und schließlich eine Näherin, die angab, einen Auftrag von Lady Harcroft erhalten zu haben, die Lieferung sei allerdings an Kates Adresse erfolgt.
Alle Sorgfalt hatte Kate nichts genutzt. Nachdem Harcrofts Verdacht erst einmal geweckt war, hatte es ihm keine große Mühe bereitet, ihre Spuren zu verfolgen. Bei der Last der Beweise, die er gegen sie gesammelt hatte, wäre Kate selbst von ihrer Schuld überzeugt gewesen.
Und in den Augen der Geschworenen war sie bereits überführt. Schon nach den ersten Zeugenaussagen mieden alle ihren Blick. Sie waren zu einem Urteil gekommen. Und Kate konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Sie hatte sich schuldig gemacht. Sie hatte Harcrofts Ehefrau entführt. Wobei sie allerdings einen sehr guten Grund dafür ins Feld führen konnte.
Mit dieser Flut an Beweislast, die sie verdammte, gab es eigentlich keinen Grund mehr, ihre Aussage zu machen. Dennoch wurde sie in den Zeugenstand gerufen.
Bezirksrichter Fang beäugte sie argwöhnisch. Natürlich zögerte er, eine Lady für schuldig zu befinden, mochte die Beweislast gegen sie noch so erdrückend sein. Seine Nervosität war allerdings ein gutes Zeichen. Er würde versuchen, das Beweismaterialzu ihren Gunsten auszulegen, um nachteiligen Konsequenzen zu entgehen, die ihm von Kates Vater oder Neds Cousin drohen könnten.
Schließlich seufzte er und begann, sie ins Verhör zu nehmen. „Lady Kathleen, haben Sie Mrs Watson als Kinderfrau in Ihre Dienste genommen?“
Diese Frage verlangte eindeutig nach der Wahrheit. „Ja, Euer Ehren.“
Er biss sich auf die Unterlippe und ließ den Blick über die Anwesenden schweifen, auf der verzweifelten Suche nach Rettung. „Und haben Sie diese Person für Ihr eigenes Kind in Ihre Dienste genommen?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Nein, Euer Ehren.“
Schweigen. Richter Fang kratzte sich an der Perücke. „Vielleicht wollten Sie einer Schwester damit einen Gefallen tun?“
„Ich habe keine Schwester“, antwortete Kate.
„Dann vielleicht einer Frau in Ihren Diensten, der Sie behilflich sein wollten?“
„Nein.“
Damit hatte er Kate jede Rechtfertigung genommen, die Kinderfrau anzustellen. Der Richter schürzte die Lippen und verschränkte die Hände auf dem Tisch. „Für wen haben Sie diese Kinderfrau angestellt?“
In Neds Abwesenheit hatte Kate keine andere Wahl, als die Wahrheit zu sagen. Die Frage war nur, wie viel sie gestehen sollte. Kate schüttelte in gespielter Verwirrung den Kopf. „Für Louisa, natürlich. Für Lady Harcroft. Ich dachte, das hätten wir bereits geklärt, Euer Ehren.“
Ein erstauntes Raunen ging durch die Reihen der Zuhörer.
Der Richter furchte die Stirn. „Und wo befindet sich besagte Kinderfrau momentan?“
Kate schenkte ihm ein sonniges Lächeln. „Ich nehme an, sie ist bei Lady Harcroft, obgleich ich es nicht beschwören könnte, da ich beide schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen habe.“
Die Geschworenen hoben bei Kates aufrichtiger Aussage die Köpfe. Sie wand sich nicht, senkte nicht den Blick. Sie sprach frei und offen. Kurzum,
Weitere Kostenlose Bücher