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Im Visier des Verlangens

Im Visier des Verlangens

Titel: Im Visier des Verlangens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Milan
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und Pferdemist schlug Ned entgegen, als er die Stallungen betrat. Der Mittelgang war sauber gefegt und mit frischer Streu ausgelegt. Die Stute, die er in London für seinen Ritt nach Berkswift erstanden hatte, streckte den Kopf aus ihrem Verschlag. Ned holte eine Karotte aus der Jackentasche und bot sie ihr auf der flachen Hand an. Vorsichtig nahm sie mit den Lippen die Karotte.
    „Wenn Sie den Satansbraten suchen, den Sie mitgebracht haben, der ist nicht hier.“
    Ned drehte sich nach der altvertrauten Stimme um. „Sie reden wohl von Champion, wie?“
    Richard Plum strich sich mit schwieliger Hand die stoppelbärtige verwitterte Wange. Einen Kommentar des alten Stallmeisters über den Namen, den Ned dem Gaul gegeben hatte, erwartete er auch nicht. Er glaubte beinahe, das Echo der Stimme des Mannes aus seinen Kindertagen zu hören. Tiere brauchen keine affektierten Namen, die sie sowieso nicht verstehen. Namen sind nichts als Lügen für uns Zweibeiner.
    „Ich habe in meinem Leben schon eine Menge Pferde gesehen“, fuhr der Mann fort.
    Ned wartete. Plum hatte sein ganzes Leben mit Tieren verbracht – mit den Pferden in Berkswifts Stallungen und der Hundemeute in den Zwingern – und schien gelegentlich zu vergessen, dass Kommunikation zwischen Menschen der Sprache bedurfte und einer gewissen natürlichen Ordnung von Frage und Antwort unterworfen war. Plum war wohl eher der Meinung, Konversation würde nur von einer Seite geführt, und zwar von seiner. Aber wenn man ihn nicht nötigte, besann er sich gelegentlich eines Besseren.
    „Der Gaul ist nicht der schlechteste, den ich je gesehen habe“, fuhr er schließlich fort. „Aber auch nicht der beste. Sein Körperbau lässt viel zu wünschen übrig, und auch wenn wir ihm etwas Fleisch auf die Knochen gefüttert haben, bleibt er schwach auf der Brust. Schlimmer ist sein Charakter … Der Gaul ist völlig unberechenbar, als habe der Teufel in seinen Hafer gepisst. Den lasse ich nicht in die Nähe meiner Stuten.“
    Theoretisch gehörten die Stuten Ned, der sich allerdings nicht an Plums Besitzansprüchen störte. Im Stillen hatte er gehofft, der Tobsuchtsanfall sei lediglich eine Nachwirkung von Champions grausamer Behandlung gewesen.
    „Das klingt ja schrecklich.“
    „Hmm.“ Plum hielt sein einsilbiges Brummen für eine ausreichende Antwort. Er schob die Hände in die Hosentaschen und schaute Ned lange an, ehe er sich aufraffen konnte, weiterzusprechen. „Jedes Tier braucht in den ersten Jahren eine anständige Behandlung, Mr Carhart. Wenn Ihr … ähm … Pferd …“, Plum vermied es, den Namen Champion auszusprechen, „… nie etwas Gutes von Menschen kennengelernt hat, dann ist es für immer verdorben. Daran ändert sich nichts mehr, auch nicht, wenn man ihm ein ganzes Jahr gut zuredet. In so einem Fall lässt sich nichts machen.“
    „Sie meinen also“, versuchte Ned vorsichtig nachzuhaken, „er ist buchstäblich für immer verdorben?“
    „Na ja …“ Plum schüttelte seinen grauen Kopf. „Irgendetwas kann man immer machen. Sie laden bei diesem Gaul einfach eine Pistole und drücken ab. Der Gnadenschuss ist das Einzige, was in einem solchen Fall noch übrig bleibt. Was ein Pferd nicht als Fohlen lernt, lernt es auch später nicht.“
    Ned wandte sich mit geballten Fäusten ab. Sein Magen drohte, sich umzudrehen. Er hatte Champion nicht vor seinem Peiniger gerettet, um ihm den Gnadenschuss zu geben. Ein Bild schoss ihm durch den Sinn: der silberglänzende Lauf einer Pistole, der im grellen Sonnenlicht aufblitzte.
    Nein!
    Ein solches Ende wünschte er niemandem, nicht einmal einem klapperdürren, schwachbrüstigen Klepper. „Wie schlimm steht es wirklich um ihn?“
    Plum zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Man müsste es auf einen Versuch ankommen lassen. Aber wenn Sie mich fragen, lohnt sich die Mühe nicht.“
    Er machte wieder eine endlos lange Pause. Ned begann, mit den Fingern einen ungeduldigen Trommelwirbel gegen sein Hosenbein zu klopfen. Wieder ein schlechtes Zeichen.
    „Der Gaul ist unbrauchbar, Sir.“
    „Was heißt schon unbrauchbar?“ Ned presste die Handflächen gegeneinander. „Muss denn jedes Tier einen Nutzen haben?“
    Plum begegnete seinem Blick. „Alle Tiere müssen einen Nutzen haben, Mr Carhart. Nutzlose Tiere sind wertlos.“
    Ned kannte das Gefühl, nutzlos zu sein. Er war der nutzlose Enkel gewesen, der Letzte in der Reihe Erbberechtigter. Er war der Hanswurst gewesen, der Possenreißer, der nur Unsinn im Kopf

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