Im Visier des Verlangens
oben im Baum. „Wie konntest du das in dem dichten Nebel sehen?“
„Ich komme öfter hier vorbei und habe es vor ein paar Tagen entdeckt.“ Sie setzten ihren Spaziergang fort.
Nach einer Weile wies er auf einen Vogel mit roter Brust,der an der schrundigen Rinde eines Eichenstammes pickte und fortflog. Etwas später drehte er einen Stein um und zeigte ihr das Gewimmel kleiner Kriechtiere, die darunter hausten.
Kate schüttelte sich und wandte sich ab. „Tausendfüßler? Ned, hast du mich aus dem Bett geholt, um mir Tausendfüßler zu zeigen?“
„Ich will dir die Schönheiten eines Herbstmorgens vor Augen führen. So früh am Morgen stören wir Menschen die Natur noch nicht mit unserem Lärm und unserer Betriebsamkeit. Unter jedem Stein tummelt sich geschäftiges Leben. Und jeder Vogel, der munter in den Bäumen zwitschert, findet genügend Nahrung. Im Grunde unterscheiden wir Menschen uns gar nicht so sehr von der Tierwelt. Mögen die Sommermonate noch so warm und reich an Beeren und Insekten sein, der nächste Winter kommt bestimmt mit Kälte und Entbehrungen.“
„Soll das so etwas wie eine verschleierte Anspielung auf die vergangene Nacht sein?“
Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Mag sein.“
Sie waren bereits seit etwa einer Stunde unterwegs, und Kate begannen die Füße in ihren engen Stiefeletten wehzutun, als sie sich dem Dorf nahe Berkswift näherten. „Was für eine bedrückende Sicht auf das Leben.“
Gleichmütig zuckte Ned die Achseln, aber sie spürte, wie sein Arm sich unter ihrer Hand anspannte. „Nicht bedrückend. So ist der Lauf der Welt. Jahreszeiten kommen und gehen, und jede Zeit hat ihre Schönheiten. Auch wir Menschen füllen im Sommer und Herbst nach der Ernte unsere Keller mit Vorräten für die kalten Wintermonate, nicht anders als Eichhörnchen, die Nüsse vergraben. Die Vögel vertilgen alles, was kreucht und fleucht, um Kräfte zu sammeln für ihren langen Flug in den Süden. Alles Leben auf Erden bereitet sich für den Winter vor.“ Er richtete den Blick in die Ferne.
Kate schüttelte recht verwirrt den Kopf. „Und das willst du mir zeigen?“ Sie hatte das Gefühl, dass ihr etwas entging,etwas von tieferer Bedeutung. Irgendetwas konnte sie nicht begreifen, was allerdings nicht auf ihren leeren Magen zurückzuführen war.
„Ich weiß. Diese Erklärung ist ein wenig weitschweifig. Meine Fantasie geht heute Morgen ein wenig mit mir durch.“
„Du tötest ja auch keine Drachen, sondern zähmst sie. Im Übrigen neigst du stets zu weitschweifigen originellen Schilderungen.“
Er zuckte wieder mit den Achseln und verstummte. Schweigend schlenderten sie die Dorfstraße entlang, vorbei an liebevoll gepflegten kleinen Vorgärten, in denen die letzten Herbstastern blühten, dahinter strohgedeckte Cottages mit Spitzenvorhängen an den kleinen Fenstern, eine beschauliche Dorfidylle, in der die Bewohner sich wohlfühlten. Ned war das gewiss längst aufgefallen, während Kate den Eindruck hatte, sie sehe all das zum ersten Mal.
„Es ist wirklich ein schöner Morgen“, sagte sie, als sie sich dem Dorfgasthof näherten, dessen Haustüre offen stand. Von drinnen hörte man die Stimme des Gastwirts, der einem Burschen Anweisung gab, das Gepäck eines Gastes herunterzubringen, und einer Magd anordnete, das Zimmer zu säubern. Sonst war es still im Haus. In einigen Stunden würde sich die Gaststube mit lärmenden Besuchern füllen, in der nun lediglich ein paar Übernachtungsgäste ihr Frühstück einnahmen. Vielleicht spähten sie aus dem Fenster und sahen Kate und Ned, die Arm in Arm die Straße entlangspazierten.
Kate fragte sich, was die Leute sich denken mochten. Würden sie ein glückliches Paar beim Morgenspaziergang sehen?
Wäre dieser Eindruck falsch?
„Ich hoffe nicht, dich beleidigt zu haben. Ich wollte dich nicht kränken. Ehrlich gestanden …“ Sie blickte zu ihm hoch. „Ehrlich gestanden, gefällt mir deine Art. Du bist fantasievoll, ohne die Grenze der Geschwätzigkeit zu überschreiten. Ich hingegen bin lediglich … vernünftig.“ Sie schluckte und richtete den Blick in die Ferne.
Das war es, was ihr in all den Jahren gefehlt hatte. Unbeschwertheit, Sorglosigkeit. Sie wollte die Augen schließen und sich bedenkenlos ihren Hoffnungen hingeben. Sie wollte glauben können, dass Ned sie auffangen würde, wenn sie den Halt verlieren sollte. Und sie wollte ihm von Louisa berichten.
Allerdings wusste sie nicht, ob sie sich an vergebliche Hoffnungen
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