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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Agrarwissenschaft in Argentinien. Eine gestohlene Skulptur, die zweifellos ein Kind – und eine traumatische Szene – darstellte. Ein Psychiater, der nach Managua geflogen war ...
    Man musste schon ein Genie sein, um diese Mosaiksteinchen zusammensetzen zu können. Dennoch glaubte Jeanne, dass sie auf der richtigen Fährte war. Im Geiste sah sie Managua vor sich, die Stadt, in der die Schlüssel zur Lösung des Falles lagen ...
    Porte de Vincennes. Nation. Jeanne wurde schwindlig. Zehn Uhr. Den ganzen Tag über hatte sie nichts gegessen. Sie fuhr Richtung Gare de Lyon und von dort zur Stadtmitte.
    Die Vernunft sagte, sie solle nach Hause fahren.
    Weißer Reis, Kaffee, Mineralwasser und dann ins Bett.
    Aber Jeanne hatte anderes im Sinn.

 
    35
    Die Gäste schlürften ihren Champagner auf dem Gehsteig der Rue de Seine, da die Galerie bei weitem nicht genügend Platz für alle Eingeladenen bot. Jeanne parkte ein Stück weiter weg. Der Tag endete mit einem glücklichen Zufall. Sie hatte den Experten für Felsmalereien angerufen, dessen Telefonnummer ihr Isabelle Vioti einige Stunden zuvor gegeben hatte. Der Mann, ein Galerist namens Jean-Pierre Fromental, veranstaltete ausgerechnet heute Abend eine Vernissage. Eine ausgezeichnete Gelegenheit, um ihm einen kleinen spätabendlichen Besuch abzustatten ...
    Als sie aus ihrem Wagen stieg und ihre Kleider zurechtzupfte, schlüpfte sie mental in die Haut einer Pariserin, die zu einer Vernissage geht. Vorgeblich aus Interesse für die ausgestellten Kunstwerke, aber in Wirklichkeit vor allem mit dem Ziel, den Mann ihres Lebens zu finden.
    Diese Rolle beherrschte sie mit traumwandlerischer Sicherheit.
    Die Handtasche über die Schulter gehängt, bahnte sie sich einen Weg durch die Menge und betrat die Galerie. Nach dem, was sie sehen konnte – die Werke waren praktisch unsichtbar, so dicht war das Gedränge in dem kleinen Raum –, handelte es sich um afrikanische oder ozeanische Kunst.
    Sie fragte sich, an wen sie sich wenden sollte, als ihr Blick auf eine junge Schwarze fiel, die direkt von einem Ausstellungspodest heruntergestiegen zu sein schien. Ihr Auftreten verriet eine gewisse Vertrautheit mit dem Ort. Bestimmt war sie die Assistentin von Fromental.
    Jeanne fragte sie, wo der Gastgeber sei. Die junge Schwarze betrachtete sie voller Mitleid; ihre Miene schien sagen zu wollen: »Wer will schon mit einem solchen alten Knacker sprechen?« Die Schönheit der Frau war verblüffend. Ihr Gesicht hatte nichts Gekünsteltes, nur eine Anmut, eine Harmonie und eine Klarheit, die einem den Atem raubten. Zugleich natürlich und geheimnisvoll.
    Sie winkte Jeanne, ihr zu folgen. Die beiden Frauen schlängelten sich zwischen den Gästen hindurch, bis sie die Tür zu einer Kammer erreichten, die die Afrikanerin öffnete, ohne anzuklopfen. Ein etwa sechzigjähriger Mann, der mit dem Rücken zu ihnen inmitten von Umzugskartons und Holzkisten stand.
    Er sprach in sein Handy:
    » Aïcha? Aber du weißt doch genau, dass ich sie rausgeschmissen habe, Minouchette. GEFEUERT! Wie du es von mir verlangt hast... Ich ... ja ... natürlich.«
    Jeanne blickte die junge Schwarze an. Man musste kein Psychologe sein, um die Situation zu erfassen. Der Galerist drehte sich um und fuhr zusammen, als er die beiden Frauen entdeckte.
    Er legte augenblicklich auf und sagte in flehendem Ton:
    »Aïcha ...«
    »Scher dich zum Teufel.«
    Die schwarze Prinzessin verschwand. Fromental lächelte gezwungen und deutete eine Art Verbeugung gegenüber Jeanne an. Er wirkte wie der Prototyp des alternden Pariser Playboys: marineblaues zweireihiges Jackett, ein himmelblau gestreiftes Hemd der Marke Charvet mit weißem Kragen, Mokassins mit Quasten, das spärliche Haupthaar nach hinten gekämmt und ein sonnengebräuntes Gesicht – der typische Jachtsport-Teint.
    »Guten Abend ...« Er hatte seine Selbstsicherheit und seine samtige, sehr tiefe Stimme wiedergefunden. »Wir kennen uns nicht, glaube ich. Interessiert Sie ein Exponat?« Jeanne war nicht in der Stimmung, lange um den heißen Brei herumzureden.
    »Jeanne Korowa«, sagte sie und schwenkte ihren Amtsausweis, »Ermittlungsrichterin am Landgericht Nanterre.«
    Fromental war bestürzt:
    »Aber ich habe die erforderlichen Zertifikate für die Werke. Ich ...«
    »Darum geht es nicht. Ich zeige Ihnen Fotos. Sie sagen mir, was Sie davon halten. In zehn Minuten ist alles erledigt. Einverstanden?«
    »Ich ...« Er schloss die Tür zur Kammer. »Gut, einverstanden

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