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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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...«
    Jeanne zog die Aufnahmen aus ihrer Tasche. Blutig rote Zeichen an den Wänden der Tatorte. Der Galerist setzte seine Brille auf und betrachtete die Fotos. Der Lärm hinter der Tür ließ nicht nach.
    »Können Sie mir die Hintergründe erläutern?«
    »Tatorte.«
    Fromental blickte über seine Brille hinweg.
    »Morde aus jüngster Vergangenheit?«
    »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Tut mir leid.«
    Der Mann nickte. Seit dem Morgen überraschte es Jeanne immer wieder, mit welcher Gelassenheit ihre Gesprächspartner auf diese barbarischen Morde reagierten. War die Welt der Fiktion – Kino, Fernsehen, Romane – mit ihrer Flut von Gewalt dafür verantwortlich, dass sich alle an die entsetzlichste Grausamkeit gewöhnt hatten?
    »Isabelle Vioti hat mir gesagt, dass Sie ein Experte für Felsmalerei sind und mir Informationen geben könnten.«
    »Kennen Sie Isabelle Vioti?«
    Dieser Gedanke schien ihn etwas zu beruhigen.
    »Ich habe im Rahmen meiner Ermittlungen mit ihr gesprochen. Das ist alles.«
    Der Galerist wandte sich wieder den Fotos zu.
    »Ist das Blut?«
    »Blut, Speichel, Kot und Pigment.«
    »Was für ein Pigment?«
    Jeanne fiel auf, dass sie dieser Spur noch überhaupt nicht nachgegangen war – sie hatte sie sogar völlig vergessen. Urucum. Eine aus Amazonien stammende Pflanze. Es war zweifellos nicht leicht, diese Pflanze in Paris aufzutreiben.
    »Urucum. Eine Pflanze, die die Indianer Amazoniens benutzen, um ...«
    »Ich weiß.«
    Fromental schien jetzt völlig in dem aufzugehen, was er sah. Aus dem gealterten Playboy war mit einem Schlag ein Professor geworden.
    »Könnten diese Zeichnungen Nachahmungen von Felsmalereien sein?«, fragte Jeanne.
    »Natürlich.«
    »Inwiefern?«
    »Nun, da ist zunächst Urucum. Ein Pigment, das vergleichbar ist mit Ocker. Und Ocker war in der Jungsteinzeit ein sehr wichtiges Material. Er wurde zum Gerben verwendet, aber auch bei Bestattungen. Man weiß nicht genau, was seine Funktion war. Vielleicht wurde ihm eine magische Kraft zugeschrieben ... Es war auch eines der wichtigsten Pigmente, das für Höhlenzeichnungen verwendet wurde.«
    »Was können Sie mir über diese Zeichnungen im Besonderen sagen? Gleichen sie bekannten Fresken?«
    Der Mann schien unschlüssig.
    »Mehr oder weniger. In einigen altsteinzeitlichen Höhlen finden sich ähnliche Strichmuster. Manche davon stellen geschlossene geometrische Figuren dar: Kreise, Ovale, Quadrate, Rechtecke, die häufig mit einem vertikalen Strich versehen sind. Dann wieder gibt es Striche mit oder ohne seitliche Ausdehnung, wie etwa X, Kreuze ... Ein wenig wie hier.«
    Jeanne fiel auf, dass Fromental nacheinander die Jung- und die Altsteinzeit erwähnt hatte, zwischen denen mehrere Zehntausend Jahre liegen. Damit bestätigte er ihre Vermutung: Der Mörder vermengte alles, durchmischte die Jahrtausende, sei es aus Unkenntnis, sei es – und sie neigte dieser Alternative zu –, weil er sich selbst als eine Synthese dieser Epochen sah.
    »Was bedeutete dies für die Frühmenschen?«
    »Das weiß man nicht. Die Felsmalerei ist eine Kunst, die wir noch nicht entschlüsseln können. Eine Ausdrucksform, die noch immer auf ihren Champollion wartet.«
    »Kommen wir auf die Maltechniken der Frühmenschen zurück. Wie gingen sie vor?«
    Fromental setzte seine Brille ab und steckte sie in seine Jacke. Ihm schien klar zu sein, dass er hier um ausführliche Erläuterungen nicht herumkommen würde. Auf der anderen Seite der Tür war die Vernissage in vollem Gange, aber das störte ihn offenbar nicht. Vermutlich verdross es ihn viel mehr, dass Aïcha fortgegangen war.
    »Beginnen wir bei den Anfängen«, hob er an. »Das Goldene Zeitalter der Felsmalerei beginnt vor etwa 40 000 Jahren und endet vor 10 000 Jahren. Es gibt eine Vielzahl von Strömungen und Stilen, aber ich will die Dinge nicht unnötig kompliziert machen. Nur so viel: Diese Malereien wurden immer in Höhlen ausgeführt. Was recht merkwürdig ist.«
    »Wieso?«
    »Weil die Menschen damals nicht in den Höhlen lebten, sondern an den Höhleneingängen. Oder sie errichteten Tipis. Die Zeichnungen dagegen brachten sie immer an den Wänden von schmalen Stollen an, die schwer zugänglich waren. Sie schützten ihre Fresken. Vielleicht handelte es sich sogar um Kultstätten ... gewissermaßen natürliche Kathedralen.«
    »Weiß man etwas über ihre Maltechnik?«
    »Man hat Malwerkzeuge aus jener Zeit gefunden. Der Künstler arbeitete mit einem oder zwei Helfern, die die Pigmente,

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