Im Wald der stummen Schreie
der sie gerade beschäftigt war. Francesca arbeitete auf einer Art Podest in der Mitte des Raumes. Durch ein System von Flaschenzügen und Winden lässt sich die Skulptur gerade halten und verschieben, wenn sie fertig ist. Auf dem Podest befand sich nichts mehr, aber das System von Seilen war erst kürzlich betätigt worden. Ich habe einen Blick dafür. Das ist schließlich mein Beruf.«
Dieses Detail hatten Reischenbach und seine Männer übersehen.
»Hat sie dieses Werk vielleicht an ihre Galerie geliefert?«
»Nein, ich habe dort angerufen. Die Galeristen haben nichts bekommen. Im Übrigen haben sie erst in einem halben Jahr mit einem neuen Werk gerechnet. Ihrer Aussage nach arbeitete Francesca an einem Geheimprojekt, das sie total begeisterte.«
»Glauben Sie, dass diese Skulptur gestohlen wurde?«
»Ja. Zweifellos nach ihrem Tod. Verrückt.«
Jeanne fiel es wie Schuppen von den Augen. Die Wahrheit war noch verrückter, als Isabelle Vioti ahnte.
Sie kannte den Dieb.
François Taine persönlich.
Sie hörte noch einmal seine letzte Nachricht nur wenige Stunden vor seinem Tod: »Komm heute Abend um zehn zu mir ... Vorher muss ich noch etwas in der Wohnung von Francesca Tercia, dem dritten Opfer, besorgen. Du wirst sehen, das ist Wahnsinn!« Das war noch harmlos ausgedrückt. Vor ihrem Treffen hatte Taine diese Skulptur bei Francesca abholen wollen. Warum?
In diesem Moment ging Jeanne noch ein weiteres Licht auf.
Eine Wahrheit, die noch verrückter war.
Jeanne hatte diese Skulptur gesehen.
Es war die bizarre Kreatur, die in den Flammen mit Taine verbrannt war.
Dieser Gollum, den sie für den Mörder gehalten hatte. Das Monsterkind, geschwärzt vom Feuer. Seine scheinbaren Missbildungen und Bewegungen waren nichts anderes als das sich in den Flammen auflösende Silikon. Und die Geste, in der sie einen Angriff gesehen hatte – der Mörder, der François Taine in die Flammen stieß –, musste umgekehrt gedeutet werden.
Taine hatte verzweifelt versucht, die Statue vor den Flammen zu retten. Aus diesem Grund hatte man auf seinen Armen Spuren von Plastik, Harz und Firnis gefunden. Die Reste der geschmolzenen Skulptur. Aus diesem Grund war die Leiche des Mörders nie gefunden worden. Es gab keinen Mörder. Jedenfalls nicht in dieser Wohnung.
Es gab nur eine Statue.
Die Taines Todesurteil war ...
Isabelle Vioti sprach noch immer, aber Jeanne hörte nicht mehr zu.
Zwei Fragen beschäftigten sie mehr als alles andere:
Weshalb hatte François Taine die Skulptur gestohlen? Weshalb wollte er sie unbedingt vor den Flammen retten?
34
Ein wüstes Durcheinander.
Das war noch gelinde gesagt.
Masken. Büsten. Arme. Mit Reißzwecken befestigte Fotos. Kernspintomografie-Aufnahmen. Zeichnungen. Glasbehälter. Paletten. Pinsel. Geblasene Glasaugen. Haare. Zähne und Nägel aus Gummi. Gipssäcke. Fayence-Ziegel. Elastomer-Blöcke ...
Und Skulpturen.
Ein Realismus, der einem Schauer über den Rücken jagte.
An den Wänden aufgestellt. Auf Brettern und Arbeitsbühnen angeordnet. Eingeklemmt zwischen Farbtöpfen und Stricken. Auf Podesten stehend. Sie hatten nichts gemein mit den braunen und beigefarbenen Statuen Isabelle Viotis – den Gesichtern und Fellen aus der Urzeit. Hier befand man sich mitten in der Gegenwart und vor allem inmitten eines Gewaltexzesses, der die Vorgeschichte als ein Zeitalter der Seligen erscheinen ließ.
Francesca Tercia stellte ausschließlich Horrorplastiken her, die Kinder zeigten.
Nicht in der Rolle von Opfern, sondern als Täter.
Jeanne ging unter den Blei- und Zinkgestängen umher. Das Atelier glich einer Fabrikhalle des 19. Jahrhunderts, die in einen modernen Loft umgewandelt worden war. Durch schräge Glaswände drangen die letzten Strahlen der Abenddämmerung herein. Sie näherte sich den Statuen.
Auf einem Sockel hatte ein Kind den Zeigefinger seiner Lehrerin in einen Bleistiftspitzer gesteckt, der an einem Schülerschreibtisch befestigt war. Das Opfer schrie, während das Kind in dem durchsichtigen Auffangbehälter des Instruments Fleischfasern betrachtete, die sich dort anstelle der üblichen Holzspäne sammelten.
Ein anderes Kind in grellen Bermudas und T-Shirt drehte die Augen eines Kätzchens mit einem Löffel um. Auf einer Arbeitsbühne lag ein gefesseltes kleines Mädchen mit ausgezogenem Schlüpfer und gespreizten Beinen. Über ihm kauerte ein Junge, der mit einer orangenen Karotte spielte, die einem Dolch glich.
Eine andere Plastik zeigte einen auf der Erde
Weitere Kostenlose Bücher