Im Wald der stummen Schreie
sitzenden Jungen in Latzhose, der einer Fliege vorsichtig die Flügel ausriss. Das Kind hatte selbst einen großen Fliegenkopf mit stark behaarten Facettenaugen.
Wie kam Francesca auf solche Ideen?
Jeanne trat an das »Werk mit dem Bleistiftspitzer« heran. Francesca hatte auf ein weißes Blatt, das am Fuß der Skulptur klebte, die Worte Arme Frau Klein geschrieben. Zweifellos war dies der Titel der Plastik. Was sollte er bedeuten?
Da fiel ihr etwas ein. Am Morgen hatte Hélène Garaudy Melanie Klein erwähnt, eine der ersten Psychoanalytikerinnen, die den Autismus erforscht hatten. Bloßer Zufall? Ein aufschlussreiches Detail: Das Kind und die Lehrerin trugen Kleider in der Mode der dreißiger Jahre.
Jeanne griff nach ihrem Handy und wählte die Nummer der Leiterin des Bettelheim-Instituts.
»Hélène?«
Sie fragte sich, ob sie die Frau nicht mit »Schwester« anreden sollte. Aber der Ton, den die Nonne anschlug, war der gleiche wie am Morgen: modern, locker, weltgewandt ...
Jeanne kam sofort zur Sache:
»Heute Morgen haben Sie mir von Melanie Klein erzählt, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts für das Krankheitsbild des Autismus interessierte.«
»Ja, allerdings.«
»Verzeihen Sie meine Frage, aber sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Melanie Klein und einem ... Bleistiftspitzer?«
»Natürlich.«
Wieder ein Versuchsballon. Und wieder ein Volltreffer.
»Melanie Klein gehörte zu den Ersten, die die Unfähigkeit des autistischen Kindes zur Symbolisierung unterstrichen. Ein Gegenstand, der mit einer bestimmten Person in Verbindung steht, ruft dem Kind diese Person nicht etwa in Erinnerung, er ist für das autistische Kind tatsächlich diese Person. Klein arbeitete an dem Fall eines kleinen Jungen namens Dick. Als der Junge eines Tages die Späne eines Bleistifts betrachtete, den er gerade spitzte, sagte er: ›Arme Frau Klein.‹ Er machte keinen Unterschied zwischen der Analytikerin und diesen Schnipseln, die ihm die Zeichnungen in Erinnerung riefen, welche er auf Geheiß der Analytikerin anfertigen sollte. Für ihn war der Bleistift buchstäblich ›Frau Klein‹ ...«
Jeanne dankte der Nonne und legte auf. Francesca hatte also das mentale Bild eines autistischen Kindes inszeniert. Was stellte die von François Taine entwendete Statue dar? Ein Geheimnis, das mit dem Autismus des Mörders in Verbindung stand? Ein frühkindliches Trauma? Und wenn dies der Fall war, woher wusste die argentinische Künstlerin davon?
Jeanne versuchte sich an die Silhouette zu erinnern, die sie in den Flammen gesehen hatte. Sie sah lediglich einen kleinwüchsigen Alien mit brennenden Haaren, der mit François Taine kämpfte. Das bedeutete nichts.
Jeanne setzte ihre Besichtigung inmitten der Gerüche nach Ton und Farbe fort. Ruhig schlenderte sie durch dieses riesige Durcheinander. Das genaue Gegenteil der hektischen Nervosität vom Vortag, als sie die Wohnung von Antoine Féraud durchsucht hatte. Es war so, als würde die Abenddämmerung direkt auf ihre Stimmung abfärben und ihr Frieden und Heiterkeit einflößen.
Sie gewahrte einen Schreibtisch, genauer gesagt, eine Arbeitsplatte, auf der ein Computer, Farbtuben, Lappen, Spachtel und Bücher mit eingeklebten Seiten lagen. An der Wand daneben hatte Francesca Tercia alte Schwarzweißfotos, Skizzen und Polaroidaufnahmen von Partys mit Reißzwecken angeheftet.
Jeanne entdeckte eine Gruppenaufnahme, auf der ein Studentenjahrgang zu sehen war. Das Bild im DIN-A4-Format war alt. Intuitiv ahnte sie, dass es sich um einen Jahrgang der Universität von Buenos Aires handelte – im Studienfach bildende Kunst oder Paläoanthropologie. Die Augen zusammenkneifend, suchte sie Francesca. Die junge Frau stand in der letzten Reihe.
Ein auffälliges Detail: einer der Studenten, ein fröhlich wirkender junger Typ mit Lockenhaar, war mit einem Textmarker eingekreist, daneben standen die Worte »Te quiero!«. Jeanne ahnte, dass es nicht die Schrift Francescas war, sondern eher die des Spaßvogels, der ihr damals dieses Bild zugeschickt und damit seine Gefühle zum Ausdruck gebracht hatte ... Ein Bräutigam? Kurz fragte sie sich, ob dieser junge Mann nicht Joachim sein mochte ... Nein. Sie sah ihn nicht so. Vorsichtig löste sie das Foto von der Wand und drehte es um: »UBA, 1998.« »UBA« stand für »Universität Buenos Aires«. Sie steckte es in ihre Tasche.
Dann ging sie in den zweiten Stock hinauf, in dem sich die Wohnung befand. Sie betrat eine andere Welt. Pastellfarben und
Weitere Kostenlose Bücher