Im Wald der stummen Schreie
die Holzkohle und das Mangan für ihn vorbereiteten. Er stand auf einer Art Leiter. Den Malgriffel in der einen Hand, eine Talgfackel in der anderen.«
»Talg?«
Noch ein Detail, das sie ganz vergessen hatte. Die Talgspuren an den Tatorten.
»Der Künstler brauchte eine Lichtquelle, um seine ›Leinwand‹ zu beleuchten. Dazu benutzte er tierisches Fett.«
Der Mörder hatte sich während der Opferung wirklich wie ein Urmensch verhalten: Er hatte die gleichen Gesten ausgeführt, die gleichen Instrumente benutzt und sich höhlenartige Räume – moderne Tiefgaragen – als Tatorte ausgesucht.
»Was stellten diese Fresken hauptsächlich dar?«
»Vor allem Tiere.«
»Weiß man, wieso?«
»Nein. Um es noch einmal zu sagen: Uns fehlt der Schlüssel zur Deutung dieser Bilder. Einige glauben, die Cro-Magnon-Menschen hätten wilde Tiere als Gottheiten verehrt. Andere vermuten, die Fresken hätten lediglich dazu gedient, sich durch die Anrufung von Geistern das Jagdglück zu sichern. Wieder andere sehen darin sexuelle Symbole. Das Pferd stehe für den Mann, der Wisent für die Frau ... Aber es gibt Millionen von Malereien auf der ganzen Welt, und man kann alles Mögliche in sie hineininterpretieren. Für mich liegen die Dinge einfacher.«
»Nämlich?«
»Eine bloße Reportage. Die Homo sapiens sapiens stellten das dar, was sie tagtäglich sahen: Tiere. Das ist alles.«
»Klingt recht prosaisch.«
»Das kommt auf die dargestellten Tiere an.«
Fromental nahm ein Buch aus einem Bücherschrank, den Jeanne hinter den Umzugskartons nicht bemerkt hatte. Ohne zu zögern, setzte er wieder die Brille auf und schlug das Buch auf:
»In der Felsmalerei werden auch halb-tierische, halb-menschliche Geschöpfe dargestellt. Wie zum Beispiel dieses ...«
Mit dem Zeigefinger deutete er auf das Foto einer menschlichen Figur mit einem Rentiergeweih, einem wie bei Katzen zwischen den Beinen hängenden Geschlechtsteil und einem Pferdeschwanz.
»Oder diese Skulptur, die aus dem Stoßzahn eines Mammuts geschnitzt wurde ...«
Gerade hatte er das Bild einer kleinen Statue aufgeschlagen, die einen Menschen mit Löwenkopf darstellte.
»Auch eine Reportage?«, fragte Jeanne mit ironischem Unterton.
»Warum nicht?«, erwiderte Fromental ernst. »Stellen Sie sich einen Moment lang vor, diese Geschöpfe hätten in der Urzeit tatsächlich existiert. Schließlich sind die antiken Sagen keineswegs aus dem Nichts entsprungen. Die Figuren der griechischen Mythologie leiten sich möglicherweise von realen Personen ab, die Jahrtausende früher gelebt haben. Ist es nicht faszinierend, sich vorzustellen, dass diese Malereien gleichsam Fotos von einer längst vergangenen magischen Wirklichkeit sind? So findet sich beispielsweise in einer Höhle die Darstellung eines Mannes mit einem Wisentkopf, der auf einer Flöte oder einem Musikbogen zu spielen scheint. Er könnte das Vorbild eines Fauns oder des Gottes Pan sein. Wer sagt uns, dass ein solches Geschöpf niemals existierte?«
Der Galerist, auf dessen Stirn Schweißtropfen standen, glich mehr und mehr einem besessenen Wissenschaftler. Um ihn von seinem Trip herunterzuholen, beschloss Jeanne, ihn zu provozieren:
»Jetzt zeige ich Ihnen mal meine Kreaturen.«
Sie zog andere Fotos heraus. Zerstückelte, aufgeschlitzte, teilweise aufgefressene Mordopfer. Jeanne war überzeugt, dass Jean-Pierre Fromental den Anblick dieser Bilder gut verkraften könne. Tatsächlich zuckte er nicht mit der Wimper.
»Drei Opfer«, sagte Jeanne. »Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen diesen barbarischen Handlungen und prähistorischen Sitten und Gebräuchen?«
»Hat er sie aufgegessen?«
»Zum Teil. Aber ich suche vor allem nach Entsprechungen zwischen diesen Opferungen und den Riten der Frühmenschen. Sehen Sie welche?«
»Das sind Venusfiguren«, verkündete er im Brustton der Überzeugung.
»Venusfiguren? Was wollen Sie damit sagen?«
Fromental zog ein Taschentuch heraus und trocknete sich die Stirn ab.
»Als der Urmensch begann, die Natur zu beherrschen, sagte er sich, dass er seinerseits von höheren Mächten beherrscht wurde. Er hat begonnen, Götter und Geister zu verehren, die er nach seinem Ebenbild schuf. Die ersten Gottheiten waren daher Göttinnen. Primitive Venusfiguren mit schweren Brüsten und breiten Hüften – Merkmalen, die mit Fruchtbarkeit in Verbindung stehen. Und auch gesichtslose Frauen. Wir haben viele Statuetten gefunden. Diese Göttinnen haben keine individuellen Züge. Es sind ...
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