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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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vielleicht nicht, ich aber schon. Ich ruf dich von dort an.«
    »Viel Glück.«
    In ihrem Wohnzimmer sitzend, schaltete Jeanne ihr Notebook an und loggte sich bei der Fluggesellschaft Iberia ein. Als sie das Ticket auf Spanisch buchte, lief ihr ein wohliges Prickeln über den Rücken. Wie lange hatte sie diese Sprache, die sie so sehr liebte, nicht mehr gesprochen?
    Sie erwischte den letzten freien Platz für den Flug IB 6347 am nächsten Morgen nach Madrid. Ankunft 12.40 Uhr. Weiterflug nach Managua um 15.10 Uhr. Dauer: sieben Stunden. Aufgrund der Zeitverschiebung würde sie dort am frühen Nachmittag landen. Wieder durchrieselte sie ein Schauder. Sie konnte es nicht glauben.
    Bevor sie das elektronische Ticket ausdruckte, musste sie die eingegebenen persönlichen Daten bestätigen. Name. Vornamen. Geburtsdatum. Adresse in Paris. Zielflughafen. Abflugzeit. Nummer ihrer Kreditkarte ...
    Die Software stellte ihr ein letztes Mal die Frage: Sind Sie sicher, dass Sie nur einen Hinflug nach Managua buchen möchten?
    Jeanne wollte gerade das »Ja«-Feld anklicken, als sie mitten in der Bewegung innehielt. Im Zeitraffer sah sie noch einmal die beiden letzten Wochen vor sich ablaufen. Thomas. Die Abhörmaßnahmen. Die geopferten Fruchtbarkeitsgöttinnen. Wie sie sich in Féraud verknallt hatte. Der Brand in Taines Wohnung. Die Konfrontation mit Joachim. Ihre fieberhaften Recherchen auf der Spur einer diabolischen Dreifaltigkeit. Vater, Sohn und Geist des Bösen ...
    Jeanne klickte auf »Ja« und versetzte sich in die Zukunft.
    Sie würde sich mit Manzarena in Verbindung setzen. Féraud finden, bevor ihn die anderen fanden. Ihn beschützen, ohne dass er etwas davon ahnte. Dann Joachim und seinen Vater aufspüren, bevor es zu weiterem Blutvergießen kam. Mittlerweile war sie fest davon überzeugt, dass die beiden ebenfalls nach Nicaragua geflogen waren.
    Sie schickte ihrer Assistentin Claire eine E-Mail mit Anweisungen. Schließlich loggte sie sich aus und trocknete sich das Gesicht ab. Selbst mitten in der Nacht ließ die Hitze nicht nach. Noch nie hatte sie den Sommer so gehasst.
    Dann packte sie ihre Reisetasche, ohne die geringste Müdigkeit zu spüren. Sie dachte an den Gerichtspräsidenten, der sie gern in sein Bett gezerrt und gleichzeitig aus dem Landgericht verbannt hätte. An Reischenbach, der sie mochte, aber gern in einen Schrank eingesperrt hätte, bis die Sache »ernsthaft« – sprich: von Männern – geregelt worden war. An François Taine, den armen François, der die Mordserie dazu benutzt hatte, sie anzumachen ...
    Jeanne musste an die Worte von Rosa Luxemburg denken, dem Idol ihrer Jugend: »Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden.«
    Sie lächelte.
    Nun war sie ein freier Mensch unter anderen. Ob es diesen Herren gefiel oder nicht.

II.
    Das Kind

 
    37
    Das Antlitz Christi auf der Rückseite eines Busses.
    Das erste Bild von Managua oder vielmehr seiner Vororte. Ein Chaos aus Chrom, Hupen, Sonne und Reklametafeln ... Jeanne hatte den Eindruck, durch ein riesiges Gewerbegebiet zu fahren. Marken, Geschäfte, wieder Marken, Logos, Busse, Taxis, Geländewagen, Pritschenwagen ... Und überall wehte die nicaraguanische Fahne, weiß und himmelblau. Sie strahlte eine Leichtigkeit und Anmut aus, die man ungeachtet des ganzen Getöses spüren konnte ...
    In ihrem Taxi kämpfte Jeanne mit dem Jetlag. Es war 14.00 Uhr in Managua, aber 21.00 Uhr nach ihrer inneren Uhr. Ihr Körper war noch auf die Pariser Zeit eingestellt, und die gleißende Helligkeit empfand sie als eine regelrechte Folter.
    Im Stadtzentrum war es ruhiger. Managua ist eine weiträumige, ebene, wie von der Sonne gebrannte Stadt, die nicht ein einziges mehrgeschossiges Gebäude besitzt – die Bewohner leben in der ständigen Angst vor Zyklonen und Erdbeben. Die von dichtem Wald gesäumten breiten Avenidas wirken wie Schneisen durch einen Dschungel, der in Wirklichkeit künstlich angelegt ist.
    Zu dieser gefälligen landschaftlichen Einbettung passt das Lächeln der Bewohner, kleiner kupferfarbener Menschen. Unvorstellbar, dass dieses Land Schauplatz der schlimmsten Gewalttätigkeiten des ausgehenden 20. Jahrhunderts gewesen ist. Diktatur, Revolution, Gegenrevolution, vermischt in einem unentwirrbaren Räderwerk des Todes und der Grausamkeit.
    Der Fahrer fragte sie, wo genau sie hinwolle. Sie antwortete aufs Geratwohl:
    »Hotel Intercontinental.«
    »Das neue oder das alte?«
    Jeanne wusste nicht, dass es zwei gab.
    »Das neue.«
    Wenn man

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