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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Arbeitszimmer des Chefs am Ende des Flurs befand. Der Gang führte um eine Ecke in einen Anbau mit zwei Räumen. Die Tür des linken Zimmers war geschlossen, die des zweiten stand offen. Es war das – verwaiste – Büro der Sekretärin. Jeanne erblickte ein altmodisches Register, das neben der Schreibmaschine stand. Auf zwei Eisenringe aufgezogene Lochkarten.
    Sie blätterte sie flink durch. MANZARENA. EDUARDO. Auf der Karte standen Privatadresse und -telefonnummer des Chefs. Eine Adresse im nicaraguanischen Stil. Managua war so oft von Erdbeben und Zyklonen verwüstet und dann wiederaufgebaut worden, dass die Straßen und Avenuen keine Namen und keine Nummern mehr hatten. Man orientierte sich daher an den Himmelsrichtungen, den Spitznamen von Häuserblocks und anderen Bezugspunkten.
    Jeanne griff nach einem Blatt, einem Kugelschreiber und notierte die Angaben: »Tica Bus, una cuadra del lago y una cuadra y media arriba«. Das bedeutete in etwa: Haltestelle Tica Bus, hundert Meter am See entlang und hundertfünfzig Meter nach oben ... Jeanne sagte sich, dass ein Taxifahrer diese kryptische Beschreibung schon verstehen würde.
    Einige Minuten später war sie draußen. Der Fahrer verstand die Botschaft tatsächlich. Jeanne bat den Chauffeur, die Klimaanlage voll aufzudrehen und wischte sich das Gesicht mit Erfrischungstüchern ab, die sie am Flughafen von Madrid gekauft hatte – ihre bislang beste Idee.
    Sie versuchte sich zu beruhigen.
    Es dämmerte. Jeanne hatte ein ungutes Gefühl. Vielleicht würde sie zu spät kommen ... Vielleicht hatte Joachim bereits zugeschlagen ... Vielleicht war Manzarena ...
    Sie zuckte zusammen.
    Eine bange Ahnung überfiel sie.
    Es hatte nichts mit Manzarena zu tun.
    Es ging um Antoine Féraud. Er hatte Joachim und seinen Vater in Managua aufgespürt. Er hatte versucht, sie zur Vernunft zu bringen. Sie aufgefordert, sich der Polizei zu stellen. Und das hatte ihn das Leben gekostet.

 
    41
    Es war fast dunkel, als Jeanne in Manzarenas Viertel eintraf. Der Fahrer erklärte ihr, wie sie zu Fuß zur Villa gelangte. Die Straßenlaternen brannten noch nicht. Mit raschen Schritten ging sie die Straße hinauf. Instinktiv wollte sie an der Tür läuten, bevor die Laternen angingen.
    In der Straße herrschte eine beklemmende Stille. Die Häuser hinter ihren Mauern oder Eisengittern wirkten in der Dunkelheit schwerer und massiver. Keine Menschenseele in der Straße oder an den Fenstern. Jeannes Schritte hallten in der Finsternis wider, während sie an mächtigen Chilamate- Bäumen vorbeiging. Den Namen hatte sie in einem der Führer gelesen, die sie sich am Madrider Flughafen gekauft hatte. Schließlich fand sie die Villa – der Chauffeur hatte ihr das Haus beschrieben.
    Sie läutete und spähte durch die Gittertür. Die Villa wirkte bescheiden. Rosa Bougainvillea, veilchenfarbige Orchideen, stämmige Palmen, zwischen denen graue Mauern, ein rotes Dach, offene Veranden und Terrassen hindurchschimmerten, wie sie für die nicaraguanische Architektur typisch waren. Hier drangen Luft, Hitze und Vegetation ins Innere der Gebäude ein. Man riss Mauern mit der gleichen Leichtigkeit ein, mit der man auf einer ausgelassenen Party seine Jacke ablegte.
    Niemand öffnete ihr. Wo waren die Leibwächter? Das Dienstpersonal? Sie läutete noch einmal. Nirgends ging ein Licht an. Nur ein schwacher, pulsierender Schein durchbrach die Finsternis auf einer der Veranden. Zweifellos eine Fliegenfalle. Offenbar war Eduardo Manzarena ausgegangen und hatte seinem Personal freigegeben. Jeanne spürte eine tiefe Niedergeschlagenheit. All ihre Anstrengungen hatten sich auf diesen Moment konzentriert – und jetzt wurde sie um diesen Moment betrogen. Sie stand vor einem unbekannten Haus in einem menschenleeren, dunklen Stadtviertel, über 10 000 Kilometer von Paris entfernt ...
    Sie wollte schon umkehren, als ihr eine Idee kam. Eine kleine Haussuchung in aller Stille ... Die schlechteste Idee überhaupt. Eine Aktion, mit der sie in einem der Gefängnisse von Managua landen könnte ... Zu spät. Sie hatte bereits den Knauf des Tors gepackt – zwei durchbrochene Eisenplatten, mit Motiven und Arabesken verziert. Kein Widerstand. Jeanne blickte sich um und schlüpfte dann in den Garten hinein. Kein Hund. Kein Geräusch. Ihr Mund war trocken wie ein Backsteinofen, während der Schweiß an ihrem Körper herunterlief. Die Schwelle war überschritten, sie hatte den Boden des Gesetzes verlassen, jetzt gab es kein Zurück

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