Im Wald der stummen Schreie
Grundstück. Es heißt Nicaragua.« Dann die sandinistische Revolution im Namen der Alphabetisierung, einer gerechteren Verteilung von Grund und Boden und der Anerkennung der Bauern. Endlich Hoffnung. Dann die Gegenrevolution, die Ronald Reagan mit Erlösen aus Waffengeschäften mit dem Iran finanzierte ... Gräuel über Gräuel. Heute hatte sich die Lage stabilisiert. Aber an den chronischen Missständen des Landes hatte sich nichts geändert ...
Eduardo Manzarena war ein hervorragendes Beispiel dafür.
Der gebürtige Kubaner hatte in den siebziger Jahren den Grundstock seines Reichtums gelegt. Der Geschäftsmann, ein ausgebildeter Hämatologe, der in Miami im Exil lebte, hatte eine Marktlücke in den USA entdeckt: das Geschäft mit Blutkonserven. Der Vietnamkrieg hatte gezeigt, wie wichtig Blutkonserven im Konfliktfall sind. Die Vereinigten Staaten hatten aber nicht genügend Vorräte. Wo ließ sich diese Mangelware finden? In den armen Ländern. Im Jahr 1972, unmittelbar nach dem Erdbeben, hatte sich Manzarena in Managua niedergelassen und die erste private Blutbank eröffnet. Binnen weniger Jahre hatte sich sein Geschäft glänzend entwickelt; sein Zentrum allein produzierte mehr Blutkonserven als die anderen Lieferländer der USA: Haiti, Brasilien, Belize, Kolumbien ... Im Jahr 1974 lieferte Plasma Inc. 20 000 Liter Blut pro Monat, was einem Marktanteil von zehn Prozent entsprach.
Die Kehrseite von Manzarenas Reichtum war das Elend der Blutspender, der verarmten Bauern, die einen Liter Blut pro Woche verkauften, ohne ihrem Körper die Zeit zu lassen, sich zu regenerieren. Infolgedessen waren mehrere Menschen in den Räumen der Blutbank gestorben. Die Gemüter hatten sich erhitzt. Plasma Inc. war zum Symbol der menschenverachtenden Ausbeutung durch die Diktatur geworden. An einem Tag des Jahres 1978 hatte sich der Zorn entladen; das Volk hatte die Blutbank in Brand gesteckt. Daraufhin war der Funke der Revolte auf das ganze Land übergesprungen, und die sandinistische Revolution war ausgebrochen. Aber der Vampir von Managua war verschwunden.
Die sozialistische Regierung hatte den Handel mit Blut und Plasma verboten. Von nun an sollten die Blutspenden unter der Kontrolle des nicaraguanischen Cruz Roja unentgeltlich erfolgen. Anschließend wurde das Blut Krankenhäusern kostenlos zur Verfügung gestellt. Und es durfte nicht mehr exportiert werden. Aber die Jahre vergingen. Und die Geister der Vergangenheit kehrten zurück. Arnoldo Alemán und seine korrupte Regierung hatten Eduardo Manzarena erlaubt, sich wieder in Managua niederzulassen und sein schmutziges Geschäft fortzuführen. Heute machte er dem Roten Kreuz wieder Konkurrenz, und die Menschen standen vor seiner Firma Schlange, um ein paar Córdobas zu verdienen.
Er hatte sein Imperium sogar vergrößert und Blutsammelstellen in Guatemala, Honduras, Salvador, Ecuador und Argentinien eröffnet. Jeanne sah vor ihrem inneren Auge Blutströme, die kurz vor der Manzarena-Mündung zusammenflossen, ehe sie sich ins Meer – die Vereinigten Staaten – ergossen. Solche Geschichten waren nur in den unterdrückten Regionen der Welt möglich. Dort, wo das Elend Menschen zu allem zwang. Da, wo Habgier und Korruption wie auf einem Misthaufen immer wieder nachwuchsen.
Sie betrachtete das Porträt des Vampirs – ein Hüne mit mächtigen Kiefern, dessen nach hinten gekämmtes Haar einem Helm aus dem Hundertjährigen Krieg glich. Mit seiner friedfertigen, wohlgesättigten Ausstrahlung glich er einem Ritter, der seine Feinde niedergestreckt hatte: Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Gleichheit ...
Was aber hatte der Vampir am 31. Mai an Nelly Barjac geschickt? Eine Blutprobe? War die Zytogenetikerin deswegen ermordet und ihr Körper teilweise verzehrt worden? Wehalb hatte Taine diesen Mann am Sonntag, den 9. Juni, angerufen? Warum hatte sich am selben Tag auch Antoine Féraud mit ihm in Verbindung gesetzt? Was wusste Eduardo Mazarena über die Morde und den Täter? In welcher Verbindung stand er zu Joachim?
Jeanne spulte die Filme zurück, schaltete das Vorführgerät aus, verabschiedete sich von der Archivarin. Sie machte sich nicht die Mühe, bei Plasma Inc. anzurufen. Sie würde direkt hinfahren und dem Vampir persönlich gegenübertreten.
40
Blutbank.
Das Firmengebäude von Plasma Inc., das im barrio Batahola Sur lag, war ein Bunker, massiver und besser bewacht als das Gericht. Stacheldrahtrollen krönten die Umfassungsmauern, und die bewaffneten Posten machten
Weitere Kostenlose Bücher