Im Wald der stummen Schreie
keine schriftlichen Aufzeichnungen.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Ich denke an die Journalisten. Ich kenne einige alte Füchse, die alles mitgekriegt haben. Falls es einen kannibalistischen Mord gegeben hat, werden sie sich daran erinnern, selbst wenn er im entlegensten Winkel des Dschungels passiert sein sollte.«
Jeanne stand auf und bedankte sich bei der Richterin. Ohne Überschwang: Sie wollte sich an den Gleichmut der Indiofrau anpassen. Als sie Eva Arias verließ, empfand sie leichte Gewissensbisse. Sie hatte ihr gegenüber nicht mit offenen Karten gespielt. Sie hatte den Namen von Eduardo Manzarena verschwiegen. Denn sie wollte einen gewissen Vorsprung vor der Justiz Nicaraguas behalten.
39
16.00 Uhr.
Sie rief ein weiteres Mal bei Plasma Inc. an.
Eduardo Manzarena war noch immer nicht da. Jeanne beschloss, erst einmal bei La Prensa zu recherchieren. Die Klimaanlage des Taxis verschaffte ihr behagliche Kühlung. Das Redaktionsgebäude der Zeitung befand sich am anderen Ende der Stadt. Alle Zeit der Welt also, um die vorbeiziehenden Kulissen der Hauptstadt eingehend zu mustern.
Es herrschte dichter Verkehr. Und an den roten Ampeln schlängelten sich fliegende Händler zwischen den Autos hindurch, um alles Mögliche – Zuckerwatte, Hunde, Hängematten, Zigaretten, Papiertaschentücher – feilzubieten. Jeanne bemerkte die jungen Frauen, die auf den Gehsteigen entlangschlenderten. Straffe Haarknoten. Ovales Gesicht. Jeans mit Schlag. Die einzige persönliche Note war die Farbe des Bustiers: türkis, rosa, lindgrün, sonnenblumengelb ... Unwillkürlich beneidete Jeanne sie um ihre zugleich dunkle und strahlende Schönheit, um ihre Jugend und ihre innige Verbundenheit mit der Erde, der Luft und dem Himmel. Und auch um ihre Ähnlichkeit – bereitwillig, ohne Konkurrenzneid schienen sie ein geheimes Verjüngungselixier miteinander zu teilen.
Aber Jeanne spürte zugleich etwas Düsteres. Die Last der Vergangenheit. Das Lächeln und die Freundlichkeit konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bevölkerung noch immer unter den Folgen der gewalttätigen Auseinandersetzungen des letzten Jahrhunderts litt. Das vergossene Blut ließ den Menschen keine Ruhe. Eine Art permanente Totenwache zehrte sie auf. Dreihundert Jahre amerikanische Ausbeutung. Vierzig Jahre blutige Diktatur. Eine Revolution. Eine Gegenrevolution. All dies, um in einer allgegenwärtigen, versteckten, chronischen Korruption zu versinken. Nicht gerade ein Grund, um optimistisch zu sein.
Der Sitz von La Prensa war ein seelenloser Betonklotz, aber das Archiv befand sich in einem pittoresken Nebengebäude mit einem kleinen blumengeschmückten Innenhof und Stuckverzierungen. Die alten Ausgaben waren auf Mikrofilmen gespeichert – sie musste sich also nicht durch Altpapier wühlen. Jeanne erkundigte sich zunächst bei der Leiterin des Archivs, einem wandelnden Lexikon, wie sie bei ihren Recherchen am besten vorgehen solle. Aus dem Gedächtnis nannte ihr die Angestellte die Jahrgänge, die sie vordringlich durchschauen solle. Die Jahre, in denen Eduardo Manzarena, der Vampir von Managua, nach Belieben schalten und walten konnte.
Beim Durchsehen der Filmspulen zog ein großer Teil der neueren Geschichte Nicaraguas an Jeannes Augen vorüber. Sie kannte sie bereits. Die Tradition der »Bananenrepubliken« – man nannte sie so, weil der Export tropischer Früchte aus den Ländern Mittelamerikas vollkommen von den Vereinigten Staaten kontrolliert wurde. Wie die meisten Leute, die politisch links stehen, hasste auch Jeanne die USA. Es war eine ebenso grundsätzliche wie willkürliche und irrationale Abneigung. Dieses Land stand für alles, was sie verabscheute: imperialistische Gewalt, Konsumwahn, ein auf materiellen Erfolg verkürzter Begriff von persönlicher Freiheit und vor allem die radikale Unterdrückung der Schwachen und der Minderheiten. Nicht zufrieden mit dem Genozid an den nordamerikanischen Indianern, hatten die Vereinigten Staaten auch die schlimmsten Diktaturen Mittel- und Südamerikas finanziert.
Mit einer Wut, zu der sich eine befremdliche Lust gesellte, frischte Jeanne durch die Lektüre einiger Artikel ihr Gedächtnis auf. Die blutrünstige Schreckensherrschaft von Anastasio Somoza Debayle, Erbe einer langen Ahnenreihe von Verbrechern – Morde, Folterungen, Vergewaltigungen, Raub. Auf die Fragen von Journalisten nach seinem Vermögen hatte der Despot einmal geantwortet: »Soweit ich weiß, besitze ich nur ein
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