Im Wald der stummen Schreie
einen recht aufgeweckten Eindruck.
Um Zutritt zu der Festung zu erhalten, zeigte Jeanne ihren Pass vor. Kein Problem. Womöglich war sie ja eine freiwillige Spenderin. Sie fand sich in einer großen Eingangshalle wieder, wie sie für tropische Regionen typisch ist. Fliesenboden. Jalousien. Deckenventilatoren. Die Blutspender standen vor mehreren Schaltern an. Andere saßen zusammengesunken auf Bänken, die wie in einer Kirche angeordnet waren, und starrten abwesend auf einen Fernsehbildschirm. Keine Krankenschwestern, keine weißen Kittel, aber ein so starker Geruch nach Äther, dass man glaubte, jeden Moment auf der Stelle ohnmächtig auf den Fliesenboden zu fallen. Das Klicken der Computertastaturen hallte von den Wänden wider wie die Klänge eines Totentanzes.
Jeanne fühlte sich unwohl. Die drückende Hitze. Der Gestank. Die Zeitverschiebung. All das zog ihr den Magen zusammen. Da fiel ihr eine kleine Frau auf, die sympathisch aussah. Um die fünfzig Jahre alt. Karierte Bluse. Ein flaches Gesicht mit Mandelaugen, verborgen hinter dicken Brillengläsern. Eine unter den Arm geklemmte Akte deutete darauf hin, dass sie eine höhere Funktion bekleidete. Jedenfalls trug sie das Schriftstück in diesem Bewusstsein.
»Por favor, señora ...«
Ohne eine Erklärung abzugeben, bat Jeanne um eine Unterredung mit Eduardo Manzarena. Die Frau antwortete ihr mit strahlendem Lächeln, der »Herr Direktor« werde »im Laufe des Tages« erscheinen. Die Frau log. Manzarena würde heute bestimmt nicht mehr kommen – es war bereits nach 17.00 Uhr. Eine innere Stimme sagte ihr sogar, dass er schon eine ganze Weile nicht mehr in seinem Büro gewesen sei ...
Jeanne dankte der Frau, begab sich zum Ausgang und wartete, bis die Sekretärin verschwunden war. Dann kehrte sie um und schlüpfte durch die erste Tür, die sie fand. Sie durchquerte ein langes, schmales Wartezimmer. Unter Werbeplakaten, die dazu aufriefen, Blut zu spenden und sich für die Zukunft Nicaraguas einzusetzen, dösten Männer vor sich hin.
Sie stieg über zahllose Füße hinweg und umfasste den Knauf der nächsten Tür. Auf einem Schild stand: »Sala de extracción« . Der Geruch versetzte ihr abermals einen Schock. Neunzigprozentiger Alkohol, Jod, Chlorreiniger, Schweiß ... Sie trat in einen fensterlosen Raum mit alten Friseurstühlen aus rotem Moleskin, auf denen die Blutspender saßen. Verschleierter Blick, fahler Teint, feuchte Schläfen: Alle schienen in den letzten Zügen zu liegen. Riesige Plastikbeutel waren über Kanülen an ihre Venen angeschlossen. Anders als sie in Artikeln gelesen hatte, schienen die hygienischen Bedingungen in den Blutentnahmeräumen bei Plasma Inc. nicht makellos zu sein. In einer Ecke wischte eine Putzfrau mit einem feuchten Tuch den Boden. In einer anderen kniete ein Arbeiter mit offenem Werkzeugkasten und klebte eine Linoleumfliese wieder an.
Jeanne suchte nach einer anderen Tür. Sie hoffte das Büro von Manzarena oder seiner Sekretärin zu finden. Dort würde sie seine Privatadresse aufstöbern. Wenn der Vampir nicht zu ihr kam, würde sie zu ihm gehen ... Ein weiterer Gang. Jeder Saal verfügte über ein großes Glasfenster, durch das Jeanne sehen konnte, was dort geschah. Niemand beachtete sie.
Ein lautes Geräusch ließ sie innehalten. Der Lärm von Zentrifugen. Trommeln drehten sich in einem fort, wie in einem Waschsalon. Auch darüber hatte sie vorhin im Zeitungsarchiv gelesen. Nach der Blutentnahme wurde das Plasma durch Zentrifugation von den Blutkörperchen und -plättchen getrennt. Das Plasma enthielt wertvolle Proteine, unter anderem den berühmten Faktor VIII – ein gerinnungsförderndes Protein, das den Hämophilen vom Typ A fehlt. Jeanne fiel es schwer zu glauben, dass sie sich an einem Ort der Wohltätigkeit befand, wo ein lebensrettendes Produkt hergestellt wurde.
Ein weiterer Saal. Rosa Wände und Kühlschränke, in denen sich die für die Vereinigten Staaten bestimmten Lieferungen befinden mussten. Es gab auch Glasschränke mit Regalgestellen, die sich in einem fort bewegten und dunkle Beutel hin- und herrüttelten, zweifellos um zu verhindern, dass das Blut gerann. Jeanne dachte: Hätten die Amerikaner genauer hingesehen, dann hätten sie bestimmt kein Plasma von Eduardo Manzarena gekauft.
Schließlich gelangte sie in die Verwaltungsabteilung. Büros mit Ventilatoren und Sekretärinnen mit hohen Haarknoten. Jeanne ging an den Zimmern vorbei, ohne die jungen Frauen zu beachten; sie ahnte, dass sich das
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