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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Handschuhe. Keinerlei Absperrung. Und jedes Gesicht glich einer komischen Variation über das Thema Entsetzen.
    Ein Mann im weißen Kittel – zweifellos jemand vom Erkennungsdienst – mühte sich, ein verschlossenes verchromtes Köfferchen zu öffnen. Dabei wiederholte er in einem fort:
    »Dónde esta la llave? Tienes la llave?«
    Jeanne erinnerte sich, dass die Aufklärungsquote der Polizei in den mittelamerikanischen Ländern nahe bei null lag. Die hiesigen Polizisten kannten nur eine Ermittlungsmethode: Das Ertappen auf frischer Tat. Hinter dem Fotografen, der fast ängstlich um die Leiche herumhüpfte, als könnte sie sich plötzlich erheben, gewahrte Jeanne die hoch aufragende Gestalt von Eva Arias. Sie wirkte zornig. Zornig über die Unfähigkeit der Polizisten. Zornig über die Anwesenheit Jeannes, einer französischen Richterin und Hauptzeugin in diesem Fall. Fast schien es, als würde sie Jeanne für dieses Blutbad verantwortlich machen ...
    »Wir müssen mal unter vier Augen sprechen.«
    Jeanne folgte der Nicaraguanerin in ein Nebenzimmer. Sie wartete nicht ab, bis diese ihr Fragen stellte, sondern fasste ihre Beobachtungen am Tatort zusammen. Erläuterte, welche Rolle Eduardo Manzarena in der Geschichte spielte. Dabei ließ sie einige weitere Details einfließen. Der Tod von François Taine, der bei lebendigem Leib verbrannt war. Die Verwicklung eines Psychiaters, der sich zweifellos gerade in Managua aufhielt. Dann zeichnete sie ein detaillierteres Charakterbild des Tatverdächtigen Joachim, der zwei Persönlichkeiten in sich barg – einerseits der humanitär engagierte Anwalt, andererseits ein autistisches Ungeheuer, das von archaischem, magischem Gedankengut besessen war ...
    Die Hünin schwieg. Ihr Gesicht wirkte unbewegt.
    »Warum haben Sie mir heute Nachmittag nicht alles gesagt?«
    »Mein Ansinnen war auch so schon recht ungewöhnlich. Ich wollte nicht noch was draufsatteln.«
    Erneutes Schweigen.
    »Was wissen Sie über Eduardo Manzarena?«, fuhr die Nicaraguanerin endlich fort.
    »Das, was ich im Archiv von La Prensa über ihn gelesen habe. Er ist groß ins Geschäft mit Blutkonserven eingestiegen und war sehr erfolgreich. Als die Sandinisten an die Macht kamen, ist er verschwunden. In den neunziger Jahren tauchte er dann wieder auf.«
    »Als die Rechten wieder an die Macht kamen.«
    In der Stimme der Richterin lag kalte Wut. Der Zorn darüber, dass die Sandinisten damals die Wahlen verloren hatten, saß offenkundig tief. Sie stand an einem Fenster. Ihr Gesicht leuchtete im Widerschein der sich gleichmäßig drehenden Blaulichter.
    »Das Volk von Nicaragua hat gegen den Bürgerkrieg gestimmt«, sagte Eva Arias mit leiser Stimme. »Nicht gegen uns.«
    »Natürlich«, meinte Jeanne, die sie nicht verärgern wollte.
    »Wussten Sie, dass Manzarena bedroht wurde?«
    »Bedroht? Von wem?«
    Eva Arias machte eine vage Geste.
    »Das ist das Seltsamste«, fuhr sie fort. »In den letzten Wochen hatte er ständig Leibwächter um sich. Er schloss sich selbst in seine vier Wände ein. Keine Frauen, keine Kinder. Ein Einzelgänger. Ein Mann, der Angst hatte.«
    Jeanne ging ein Licht auf: Die Sekretärin bei Plasma Inc. hatte gesagt, Manzarena werde »im Lauf des Tages« ins Büro kommen. Das war nur die offizielle Sprachregelung. Er kam schon lange nicht mehr ins Büro.
    »Ich muss seine Leibwächter ausfindig machen«, murmelte Eva Arias. »Seine Hausangestellten. Sie wissen mit Sicherheit etwas.«
    »Wovor fürchtete sich Manzarena?«, hakte Jeanne nach. »Wer bedrohte ihn?«
    Eva Arias blickte durch die Lamellen der Jalousie.
    »Von jetzt an«, versetzte sie, der Frage ausweichend, »halten Sie sich raus. Sie unternehmen nichts mehr. Andernfalls stelle ich Sie in Ihrem Hotel unter Polizeiaufsicht. Lassen Sie unsere Polizei ihre Arbeit machen.«
    »Ich habe gesehen, wie tüchtig sie sind.«
    Eva Arias warf ihr einen vernichtenden Blick zu.
    »Verfügen Sie über Fachleute für Spurensicherung?«
    Die Augen der Nicaraguanerin funkelten vor Zorn.
    »Ich kenne diesen Mörder«, fuhr Jeanne fort. »Er trifft keinerlei Vorsichtsmaßnahmen. Jedenfalls nicht im Hinblick auf die Spuren, die er hinterlässt. Nehmen Sie Fingerabdrücke am Tatort! Sie werden überall die des Mörders finden – selbstverständlich neben denen Ihrer Leute.«
    Die Richterin schwieg noch immer. Sie sah ganz so aus, als würde sie gleich in die Luft gehen.
    »Joachim stammt zweifellos aus Nicaragua. Wenn er nur ein einziges Mal von der

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